Schokolade, Satelliten und die wahre Schönheit der Mathematik
Was verbindet fliessende Schokolade mit der Bewegung von Satelliten? Solche mathematischen Rätsel begeistern Jagna Wiśniewska. Die Polin ist eine von acht Frauen, die an der ETH zeigen, was sie an Mathematik begeistert.
Gleichmässig fliesst die Schokolade über den Berliner. Jagna Wiśniewska schaut aufmerksam zu. An dem Punkt, wo die Schokolade in einem Strahl auf das Hefesüssgebäck trifft, zerteilt sie sich in alle Richtungen. Sie umrundet den Berliner bis sie an einem weiteren Punkt wieder zusammenfliesst.
Ganz anders verhält sich die Schokolade auf einem Donut. Im Unterschied zum Berliner hat ein Donut ein Loch in der Mitte: Dort befinden sich zwei zusätzliche Punkte, wo die Schokolade zunächst zusammenfliesst, bevor sie sich auf zwei Richtungen verteilt. Anhand solcher Punkte kann eine Mathematikerin wie Jagna Wiśniewska auf die Form zurückschliessen: dass also ein Donut wie ein Ring oder «Torus» geformt ist und ein Berliner wie eine Kugel oder eine «Sphäre».
Die Beziehungen zwischen Form, Struktur und Bewegung untersucht Jagna Wiśniewska in der Geometrie. Berliner und Donuts sind für sie Anschauungsbeispiele. In der Forschung befasst sie sich mehr mit den Umlaufbahnen von Satelliten als mit Süssgebäck.
Gewisse Grundsätze und Gesetze gelten jedoch für beide. Genau das gefällt Jagna Wiśniewska an der Mathematik: Dass sich scheinbar weit auseinanderliegende Dinge mit ein und derselben Art von Gleichungen beschreiben lassen. «Das macht für mich die Schönheit der Mathematik aus», sagt sie.
Die Schönheit der Mathematik
Viele Mathematikerinnen und Mathematiker erleben das und bezeichnen die Schönheit als eine herausragende Eigenschaft ihrer Ergebnisse. Das kann sich auf die Schönheit wohlgeordneter Proportionen beziehen, die man von gotischen Kathedralen oder dem Goldenen Schnitt her kennt.
Die spezifische Schönheit der Mathematik zeigt sich jedoch in der Klarheit, Einfachheit und Eleganz mathematischer Sätze und Beweise sowie in deren allgemeiner Wahrheit. Auch Wiśniewska geht es so: «Wenn ich nach langer Suche bestimmte Gleichungen lösen kann, dann sind die Lösungen für mich einfach schön.»
Jagna Wiśniewska hat ein passendes Bild für diese Art von Schönheit: Sie vergleicht sie mit der Aussicht, wenn man nach einer anstrengenden Bergwanderung den Gipfel erreicht und hinunterblickt. Ganz oben gewinnt man den Überblick und sieht, wie die Täler sich verzweigen, wo die Wege sich kreuzen und welche Pfade sich bergaufwärts schlängeln und zum Gipfel führen. Mancher ist ein Holzweg und führt nicht zum Ziel.
«Vielleicht», sagt die Polin, die selber gerne wandert und es schätzt, dass Zürich nahe bei den Bergen liegt, «muss du auch einmal umkehren und eine andere Route versuchen, aber wenn du nach all deinen Versuchen oben ankommst, dann ist die Aussicht umso schöner. Genau das empfindest du in dem Moment, in dem du ein Theorem bewiesen oder die Lösung einer besonders schwierigen Gleichung gefunden hast.»
Der Nervenkitzel der Entdeckerin
Dieser Nervenkitzel und das Gefühl, Neuland zu erschliessen, sagt Wiśniewska, reizt sie: «Auf der ganzen Welt gibt es kaum noch Orte, wo nicht schon jemand gewesen ist. In der Welt der Mathematik hingegen entdecken wir immer noch Orte, wo noch niemand war. Uns setzt nur der eigene Verstand eine Grenze», sagt sie, «dieses Gefühl, eine Entdeckerin zu sein, begeistert mich an der Mathematik.»
Entdeckerqualitäten sind in dem Gebiet, in dem Jagna Wiśniewska forscht, gefragt. Die symplektische Geometrie ist eine sehr junge Teildisziplin, die sich erst ab der Mitte der 1980er-Jahre herausgebildet hat und deren Grundlagen noch in diesem Jahrzehnt intensiv diskutiert wurden.
Ihre Anfänge hat die symplektische Geometrie in der klassischen Physik des 19. Jahrhunderts: Im Prinzip untersucht sie die Position und die Bewegung von Teilchen im Raum und wie diese mit der Energie zusammenhängen. Menschen treffen in ihrem Alltag auf Beispiele für diese Systeme. Doch auch wenn sie durch relativ einfache mathematische Gleichungen zu beschreiben sind, können sie dennoch zu komplex sein, um explizit mit einer präzisen Formel gelöst zu werden. Die Aufgabe ist selbst in einfachen, begrenzten Räumen wie Kugeln und Tori nicht trivial, wird aber in grenzenlosen Räumen wie dem Kosmos noch anspruchsvoller – und bis heute gibt es in der symplektischen Geometrie ungelöste mathematische Fragen und Rätsel.
Geschlossene Orbits und offene Laufbahn
Wenn sich ein Teilchen im Raum bewegt und zu seinem Startpunkt zurückkehrt, dann sprechen Mathematiker von einem geschlossenen Orbit oder einer geschlossenen Umlaufbahn. Den Startpunkt nennen sie Fixpunkt. Das kann Planeten betreffen, die um Sterne kreisen, oder wie in Wiśniewskas Forschung Satelliten, die um Planeten kreisen.
Anhand solcher Fixpunkte und geschlossener Orbits lassen sich – wie eingangs am Beispiel der Donuts und Berliner geschildert – Eigenschaften von Räumen und Formen bestimmten. Jagna Wiśniewska interessiert, wo und wie sich ein Satellit im Weltraum platzieren lässt, sodass er sich auf einer geschlossenen Umlaufbahn bewegt und weder mit einem Planeten zusammenstösst noch nicht im unendlichen Weltraum irgendwohin fliegt. Die ideale Kreisbahn zu finden, ist anspruchsvoll. Wichtige Rückschlüsse, ob es eine geschlossene Umlaufbahn gibt oder nicht, kann die Form der Menge mit gleichbleibender Energie liefern.
Aufgewachsen ist Jagna Wiśniewska in Polen. Ihr Studium schloss sie an der Universität Warschau ab. Während eines Erasmus-Aufenthaltes in den Niederlanden lernte sie Federica Pasquotto kennen, bei der sie 2017 sie ihr Doktorat an der Universität Amsterdam ablegte. Seit einem Jahr forscht Jagna Wiśniewska nun als Postdoktorandin an der ETH in der Gruppe von Will Merry.
Sie schätzt das Arbeitsumfeld im ETH-Hauptgebäude und den offenen Austausch in der Gruppe: Das sei wichtig, sagt Wiśniewska, «denn die Mathematik lebt vom Austausch der Ideen, und dass man sich wechselseitig ermuntert, eigene Ideen auszuprobieren.» Wie es mit ihrer beruflichen Laufbahn weitergeht, lässt sie noch offen.
Schülerinnen, die sich nicht schlüssig sind, ob sie Mathematik studieren wollen, sagt sie: «Versucht es. Ihr könnt es schaffen. Es gibt keine Grenzen in der Mathematik.»
goMATH - Frauen in der Mathematik
Vom 11. bis 22. März 2019 organisiert das Departement Mathematik eine Veranstaltungsreihe mit Ausstellung zum Thema Frauen in der Mathematik. Die Ausstellung in der Haupthalle des ETH-Hauptgebäudes stellt insgesamt 27 Mathematikerinnen, ihre Forschung und ihre bisherige Berufslaufbahn vor. Sie zeigt auch Objekte, mit denen Schülerinnen und Schüler im Rahmen eines Wettbewerbs bestimmte mathematische Sachverhalte verständlich darstellen.
Schwerpunkt der ersten Woche ist ein Symposium, bei dem international renommierte Mathematikerinnen ihre Forschung vorstellen. Die zweite Woche fokussiert auf die Karrieremöglichkeiten, die sich aus dem Mathematikstudium ergeben. Mathematikerinnen aus verschiedenen Branchen tauschen ihre Erfahrungen mit Schülerinnen und Studentinnen aus. Weiter gibt es Workshops für Schulklassen, die sie in die Welt des mathematischen Denkens einführt.
Informationen zur Veranstaltungsreihe (auf Englisch): www.math.ethz.ch/gomath
Informationen zur Ausstellung im ETH-Hauptgebäude.