«Es gab Momente, in denen ich knapp davor stand aufzugeben»
Renato Paro kam als Sohn italienischer Migranten nach Basel. Dort baute er Jahre später das Departement für Biosysteme (D-BSSE) auf. Er gilt als Pionier der Epigenetik. Sein Verfahren für die Bestimmung von Protein-DNA-Wechselwirkungen in lebendigen Zellen hat sich weltweit in Labors durchgesetzt.
Renato Paro empfängt in seinem Büro im 8. Stock des Departements für Biosysteme (D-BSSE) im Basler Rosentalareal. Die Fenster seines grosszügigen, aufgeräumten Büros geben den Blick frei über die Stadt. Die beiden Pharma-Weltkonzerne Roche und Novartis liegen nur wenige hundert Meter entfernt; das Biozentrum der Universität und das Universitätsspital sind auf der anderen Rheinseite ebenfalls in Reichweite.
13 Jahre ist es her, seit Paro in die Stadt seiner Jugend zurückkehrte, um hier ein Forschungszentrum aufzubauen, das in dieser Form einzigartig ist und heute weltweit Nachahmer findet. «Ich bin Stolz darauf, was wir hier in den vergangenen Jahren aufbauen konnten», sagt Paro wenige Wochen vor seiner Emeritierung als ETH-Professor für Biosysteme. Zumal der Erfolg dieses Vorhabens zu Beginn unter einem schlechten Stern gestanden hatte. «Damals, im Gründungsjahr, 2006, gab es Momente, in denen ich knapp davor stand aufzugeben», erinnert er sich. «Ich wusste zwar, wie man eine Forschungsgruppe leitet und ein Institut führt, aber nicht, wie man ein Forschungszentrum von Grund auf und gegen den teilweisen Widerstand seiner Kollegen aufbaut.»
Biozentrum anstelle Architekturstudium
Paro ist gebürtiger Italiener. Die ersten drei Jahre wuchs er bei seinen Grosseltern in Treviso in der Nähe von Venedig auf. Seine Eltern waren auf der Suche nach Arbeit nach Birsfelden in die Agglomeration von Basel emigriert. 1957 holten sie den Sohn in die Schweiz. Er besuchte in Birsfelden die Primarschule, ging in Basel aufs Gymnasium und wollte in Zürich Architektur studieren. Doch das blieb ihm verwehrt. Ein solches Studium an der ETH hätte Kosten für Unterkunft und Reise mit sich gebracht. Das konnten sich seine Eltern nicht leisten.
Doch es gab einen Plan B: Paros Biologielehrer konnte den Schüler für sein Fach begeistern, das Anfang der 70er-Jahre im Umbruch war: An der Universität Stanford war soeben das erste DNA-Molekül mittels gentechnischer Methoden neu zusammengesetzt worden. Die Biotechnologie, welche solche rekombinante DNA verwendete, weckte Hoffnungen für komplett neue Medikamente und revolutionierte in der Folge die Pharmaproduktion. Die Universität Basel reagierte darauf mit der Gründung eines interdisziplinären Departements, das Biozentrum. Paro gehörte zu dessen ersten Studierenden und profitierte von einem einzigartigen Curriculum, das stark auf die damals aufkommende Molekularbiologie fokussierte.
Abkehr vom DNA-Zentrismus
Nach der Doktorarbeit in Basel zog Paro mit seiner Frau für Postdoktoranden-Stellen zuerst ein Jahr nach Edinburgh und dann für drei Jahre nach Kalifornien, wo er am Departement für Biochemie der Universität Stanford forschte, dem Geburtsort der rekombinanten DNA. «Eine Traumdestination in vielerlei Hinsicht», resümiert Paro. Das Leben und Arbeiten auf dem berühmten Campus war aufregend, die intellektuelle Stimulierung einzigartig. «Im Rückblick war dies wohl die beste Zeit meiner Karriere, geprägt durch sehr viel Forschungsfreiheit und noch nicht allzu viel Verantwortung für Dritte.»
Während dieser Zeit fand er auch zum Fachgebiet, das seine Forschung fortan prägen sollte: der Epigenetik. Anders als die Genetik fokussiert dieses Gebiet auf Prozesse, die nicht von der DNA-Sequenz abhängen, welche die Zellentwicklung trotzdem stark prägen. «Das war Neuland», sagt Paro heute. «Damals war die Biologie noch komplett auf die Basensequenz der DNA zentriert.» Dass die Vererbung von Informationen, also zum Beispiel Prädispositionen für Krebsentstehung oder die Entwicklung von Diabetes, nicht alleine über die DNA, sondern genauso über Proteine ausserhalb dieser stattfindet, galt damals noch als unwahrscheinlich. Zwar waren die theoretischen Grundlagen der Epigenetik bereits in den 60er-Jahren entwickelt worden. Der Epigenetik-Boom begann jedoch erst mit der Jahrtausendwende.
Zurück in Europa, baute Paro am neu gegründeten Zentrum für Molekulare Biologie der Universität Heidelberg seine erste Forschungsgruppe auf. Dort beschäftigte er sich mit dem zellulären Gedächtnis. Ihn trieb die Frage um, wie Zellen mit identischer DNA sich zu Leber- und Herzzellen ausdifferenzieren können und dieses Wissen an die nächste Zellgeneration weitergeben. «Wir fanden heraus, dass der Unterschied darin besteht, wie die DNA epigenetisch ‹gelesen› wird», erklärt Paro. «Dies geschieht über bestimmte Proteine, sogenannte Histone. Sie aktivieren oder unterdrücken gewisse Charakteristiken einer Zelle und geben diese Merkmale an die nächste Zellgeneration weiter. Damit handelt es sich um einen Vererbungsmechanismus, der nicht auf der Sequenz der DNA beruht.»
Aus Paros Forschung in Heidelberg resultierte die Chromatin-Immunpräzipitation (ChIP); eine experimentelle Methode zur Bestimmung von Protein-DNA-Wechselwirkungen in lebendigen Zellen. Epigenetiker können damit die Positionen der Wechselwirkung zwischen der DNA und den Histonen bestimmen, die für das zelluläre Gedächtnis eine Schlüsselrolle spielen. Die ChIP-Methode wird heute weltweit in tausenden von biologischen Labors verwendet. Ist Paro mit dieser Erfindung reich geworden? «Nein, wir haben uns damals gegen eine Patentierung entschieden. Für mich als junger Gruppenleiter stand die Publikation der Technologie im Vordergrund.» Eine verpasste Chance, wie er heute gesteht.
Start mit Hindernissen
Im Dezember 2005 erhielt Paro einen Anruf vom damaligen ETH-Präsidenten Ernst Hafen. Dieser bot ihm an, in Basel ein neues Zentrum für Systembiologie aufzubauen. Paro sagte zu. «Ich war damals 51, hatte nochmals Lust auf eine Veränderung und sah darin eine Chance, Basel, der Stadt, der ich soviel zu verdanken habe, etwas zurückzugeben.»
Was Paro damals noch nicht wusste: Die Gründung des neuen Zentrums war hochpolitisch. Der Schweizer Föderalismus verlangte nach einem weiteren Forschungsinstitut des Bundes ausserhalb Zürichs. Laut Paro wurde das Projekt jedoch von den meisten ETH-Professoren in Zürich skeptisch betrachtet, weil diese befürchteten, dass ihrer eigenen Forschung durch die Gründung eines neuen ETH-Ablegers Gelder abhandenkommen könnten. Erschwerend hinzu kam: Kurz nach Paros Rückkehr trat Ernst Hafen als ETH-Präsident zurück – damit verlor er einen wichtigen Fürsprecher des Projekts. «Das war eine sehr anstrengende Zeit mit vielen schlaflosen Nächten», erinnert er sich. «Erst als Ralph Eichler, der Nachfolger Hafens, mehrere Professoren in Zürich davon überzeugen konnte, mir beim Aufbau des neuen Departements zu helfen, ging es richtig los.» Schliesslich sprach der Bund 100 Millionen Franken für das neu gegründete Departement. Damit war der Aufbau auch mittelfristig gesichert.
Heute belegt das D-BSSE im Rosentalareal vier Gebäude. Es umfasst 19 Forschungsgruppen mit über 350 Mitarbeitenden. «Der Schlüssel zum Erfolg war, dass wir von Beginn weg multidisziplinär aufgestellt waren», sagt Paro. Forschungsdurchbrüche und neue Technologien um die Jahrtausendwende ermöglichten die systematische Analyse von tausenden von Proteinen und Basenpaaren gleichzeitig. Für die entsprechende Infrastruktur und die Auswertung der riesigen Datenmengen sind nicht nur Biologen, sondern auch Mathematiker, Bioinformatiker und Ingenieure nötig.
2014 wurde entschieden, dass das Departement in einen 220 Millionen Franken teuren Neubau in den Schällemätteli-Campus auf die andere Rheinseite umzieht. Das freut Paro besonders. Nicht nur, weil damit die Zukunft des D-BSSE über seine Emeritierung hinaus gesichert ist, sondern auch, weil damit die Basis für den Sprung von der Grundlagenforschung zur klinisch-angewandten Forschung gelegt worden sei. Einerseits liegt das neue Gebäude zwischen Universitätsspital und Biozentrum, andererseits wird es mit speziellen Labors für die Zertifizierung von Medikamenten für klinische Tests ausgerüstet sein. Paro erhofft sich von der Systembiologie nämlich wichtige Durchbrüche in der Krebs- und Diabetesforschung sowie in der Regenerationsmedizin mit Hilfe von zellbasierten Therapien. «Die nächste Phase von Medizin und Pharma wird nicht mehr durch die Entwicklung neuer Moleküle, sondern durch die Umprogrammierung von Zellen bestimmt», ist er überzeugt.