Dem Rätsel der Materie auf der Spur
Ein aufwändiges, internationales Forschungsexperiment zeigt, dass das elektrische Dipolmoment des Neutrons deutlich kleiner ist als bisher angenommen. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass man die Existenz der Materie im Universum mit eben diesem Dipolmoment erklären kann.
Beim Urknall entstand sowohl die Materie des Universums als auch die sogenannte Antimaterie – so zumindest die gängige Theorie. Da sich die beiden allerdings gegenseitig auslöschen, muss ein Überschuss an Materie entstanden sein, der bis heute übrigblieb. Wie es dazu gekommen ist, ist eines der grossen Rätsel der Physik und Astronomie. Einen Hinweis auf das dahinterliegende Phänomen hoffen Forschende unter anderem mithilfe von Neutronen zu finden, den elektrisch ungeladenen Bausteinen der Atomkerne. Die Vermutung: Hätte das Neutron ein messbares elektrisches Dipolmoment (kurz: nEDM), könnte dahinter das gleiche physikalische Prinzip stecken, das auch den Überhang an Materie nach dem Urknall erklären würde.
50'000 Messungen
Die Suche nach dem nEDM lässt sich alltagssprachlich ausdrücken als die Frage, ob das Neutron ein elektrischer Kompass ist oder nicht. Schon lange ist klar, dass das Neutron ein magnetischer Kompass ist und auf ein Magnetfeld reagiert, oder im Fachjargon: ein magnetisches Dipolmoment hat. Sollte das Neutron zusätzlich auch ein elektrisches Dipolmoment haben, wäre dessen Wert jedoch sehr viel geringer und daher ungleich schwieriger zu messen, wie man aufgrund von früheren Studien bereits weiss.
Physiker der ETH Zürich, des Paul Scherrer Instituts (PSI) in Villigen und der Universität Bern haben nun – in Zusammenarbeit mit Forschenden von 13 weiteren Institutionen in Europa und den USA – in einer neuen Studie das elektrische Dipolmoment des Neutrons mit bisher unerreichter Präzision neu vermessen. Sie nutzen dazu die Quelle für ultrakalte Neutronen am PSI, die Neutronen mit vergleichsweise langsamer Geschwindigkeit liefert. Über einen Zeitraum von zwei Jahren, wurden alle 300 Sekunden für acht Sekunden Bündel mit über 10'000 Neutronen zum Experiment gelenkt und untersucht. Insgesamt vermassen die Forschenden 50'000 solcher Bündel, bis sie eine genügend grosse Zahl an beobachteten Neutronen hatten.
Die Messungen erforderten einiges an Aufwand, um das lokale Magnetfeld konstant zu halten. So störten beispielsweise Lastwagen, die auf der Landstrasse neben dem PSI vorbeifuhren, das Magnetfeld in einer für dieses Experiment relevanten Grössenordnung und mussten daher als Störsignal aus den Versuchsdaten herausgerechnet werden. «Das war selbst für das PSI mit seinen Grossforschungsanlagen eine ziemlich umfangreiche Studie», erklärt Klaus Kirch, ETH-Professor für Experimentelle Teilchenphysik und von 2005 bis 2018 Leiter der Studie. «Aber genau das ist heutzutage nötig, wenn wir nach Physik jenseits des Standardmodells suchen.»
Noch genauere Messungen geplant
Ähnlich wie in früheren Studien konnten die Forschenden auch diesmal keinen von Null verschiedenen Wert für das nEDM ermitteln. «Falls das Neutron ein elektrisches Dipolmoment hat, ist dieses zu klein, um es mit unseren bisherigen Instrumenten zu messen», erklärt Kirch. Für die Physik jenseits des Standardmodells bedeutet das: Es ist also unwahrscheinlicher geworden, dass der Materie-Überschuss im Universum anhand des elektrischen Dipolmoments des Neutrons erklärt werden kann. Aber ganz ausgeschlossen ist es weiterhin nicht. Deshalb planen die Physiker bereits das nächste, noch genauere Experiment: Ab 2021 soll die nächste Messreihe starten, welche die Neutronen nochmals wesentlich präziser vermessen wird.
Dieser Text wurde auf Grundlage einer Medienmitteilung des externe Seite Paul Scherrer Instituts erstellt.
Literaturhinweis
Abel C et al. Measurement of the permanent electric dipole moment of the neutron. Physical Review Letters 28. Februar 2020. doi: externe Seite 10.1103/PhysRevLett.124.081803