Scheitern erwünscht
Das Student Project House ist ein Lernort mit Modellcharakter für die Zukunft. Hier gibt es keine Kreditpunkte. Das fördert kritischen Geist und Mut, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen.
Jenny Held entwickelt mit Alexander Smirnow kleine automatisierte Gärten für den Küchentisch oder das Regal. Zusammen gründeten sie das Start-up «Pleasant Plants». In den hölzernen «Guckkästen» voller Technik wachsen Cherrytomaten oder Kräuter – auch bei Leuten ohne grünen Daumen. 299 Franken kostet der Automat, inklusive Wurzelmedium, Samen und Nährstoffen, Bedienungsanleitung, Netzkabel. Einmal installiert, sorgt er für die richtige Bewässerung, Beleuchtung und Nährstoffzufuhr. Vor Kurzem hat das Start-up die erste Charge ausgeliefert, als Nächstes will es die Kosten minimieren.
Held ist eigentlich Physikerin. Sie studierte am King’s College in London und an der ETH Zürich. Als Doktorandin modellierte sie zudem bis 2019 an der Eawag die Dynamiken von Phytoplankton. Das Doktorat war immer ihr oberstes Ziel. Und doch wurde sie irgendwann dazwischen Unternehmerin. Sie erzählt: «In meiner WG welkten die Erdbeerstauden, weil niemand für sie Zeit hatte. Zudem trieb mich die Problematik an, dass unsere Nahrungsmittelproduktion zu ineffizient und zu schädlich ist.» Zusammen mit Freunden begannen Held und Smirnow zuhause automatische Bewässerungssysteme zu bauen, im Student Project House fanden sie schliesslich Infrastruktur und Unterstützung, um die Idee einer automatisierten Nahrungsmittelproduktion weiterzuentwickeln.
Knapp zwei Jahre dauerte es von der Idee bis zur ersten Lieferung. In dieser Zeit hat die Physikerin nicht nur die Grundlagen von automatisierter Pflanzenzucht gelernt, sondern auch, wie Produktdesign, Marketing und Lieferung organisiert werden müssen.
Bereit, sich neu zu erfinden
Die ETH Zürich hat den Anspruch, «Future Ready Graduates» auszubilden: Absolventinnen und Absolventen mit Mut und kritischem Geist, sich auf unbekanntes Terrain zu wagen und Probleme lösen zu können. ETH-Rektorin Sarah Springman erklärt: «Bei der schnellen technologischen Entwicklung werden sich unsere Absolventinnen und Absolventen in ihrem Berufsleben x-mal neu erfinden müssen. Darauf müssen wir sie vorbereiten.»
Das Student Project House soll dazu beitragen. Es ist eines der wichtigen strategischen Projekte, mit denen die ETH dem technologischen und gesellschaftlichen Wandel in der Lehre begegnet. Ursprünglich von Lino Guzzella, dem ehemaligen Präsidenten und Rektor der ETH, initiiert, eröffnete die ETH Zürich im Oktober den zweiten Standort auf dem Campus im Zentrum. Es ist eine Mischung aus Ideenlabor und Werkstatt, Studierende finden hier alles Erdenkliche, um eigene Ideen umzusetzen, Projekte voranzutreiben und Prototypen zu bauen.
Im ehemaligen Fernheizkraftwerk wurden die Heizkessel rückgebaut und auf fünf Stockwerken mehr als 1200 Quadratmeter Raum geschaffen. Hier gibt es jetzt 3D-Drucker, Lasercutter, Räume für Workshops und Arbeitsplätze. Ein Team von professionellen Coaches – alle bringen eigene Erfahrungen aus Innovationsprojekten mit – unterstützt die Projektteams. Offen steht das Student Project House allen, die an der ETH eingeschrieben sind und die Basisprüfung bestanden haben.
Lucie Rejman ist die Leiterin des Student Project House. «Mit diesem Ideenlabor möchten wir die Studierenden ermuntern und befähigen, Neues auszuprobieren und auch Projekte umzusetzen, die nicht direkt etwas mit ihrem Studiengang zu tun haben müssen», sagt sie. Kreditpunkte für das Studium gibt es dafür denn auch keine. Das sei zentral, betont Rejman: «Die Studierenden kommen ins Student Project House, weil sie Leidenschaft für ihre Idee haben und etwas Eigenes entwickeln wollen. Und sie sollen hier auch scheitern können, ohne dass dies einen Einfluss auf ihr Studium hat.» Die Idee selbst spielt keine Rolle, um im Student Project House aufgenommen zu werden.
Mut haben, zu entscheiden
Diese Freiheit schafft wichtigen Raum. Die Studierenden lernen, auch in unbekannten Situationen mutig zu sein. Jenny Held erinnert sich gut an die ersten Aha-Erlebnisse: «Im Studium bekommt man oft den Eindruck, dass man immer die optimale Lösung finden kann oder dass man zumindest durch genügend Überlegen und Rechnen sicher sein kann, dass die Umsetzung am Ende klappt.» Im Student Project House erfuhr sie, dass dieses Vorgehen bei Projekten oft nicht effizient genug ist.
Sie habe mehrere Situationen erlebt, in denen sie mit limitiertem Wissen Entscheidungen treffen musste. Sie sagt: «Man kann ewig überlegen, welche Technologie die bessere ist oder was die Kunden wirklich möchten. Viel effizienter ist es aber, Dinge auszuprobieren – und die potenziellen Kunden zu fragen. Ich habe ein Vertrauen gewonnen, Dinge einfach zu tun.»
Darüber hinaus habe sie schnell gelernt, mit anderen gut zusammenzuarbeiten. «Irgendwann kommt man an einen Punkt, an dem man das nötige Know-how nicht mehr hat. Dann ist man gezwungen, sehr schnell eine Sprache zu lernen, die alle trotz ihrer verschiedenen fachlichen Hintergründe verstehen.»
Ivan Hanselmann arbeitet als Coach im Student Project House und hat auch Jenny Held und ihr Team unterstützt. Die Erfahrungen, die Held beschreibt, gehörten zu den wichtigsten, um mit Innovationen erfolgreich zu sein, sagt der Betriebswirtschafter. Daraus erwüchsen Einstellungen, die man nicht frontal unterrichten könne.
Hanselmanns Rolle unterscheidet sich denn auch von jener eines klassischen Dozenten. Manchmal gebe er zwar selber Wissen weiter, meistens aber versuche er, die Projektteams einfach neuen Lernsituationen auszusetzen. Denn die Innovationsforschung zeige, dass Unternehmer vor allem durch externen Input erfolgreicher werden. «Ich suche möglichst viel Input für die Projektteams, zum Beispiel durch Gespräche mit Experten aus der Industrie oder mit anderen Teams», sagt er. Es sei zudem gar nicht so entscheidend, dass alle Inputs von direktem Nutzen sind: «Je mehr Input sie erhalten, desto mehr beginnen sie nachzudenken. Sie überlegen sich, was sie mit ihrem Projekt wirklich wollen, welches die grösste kritische Funktion ist und welche Inputs ihnen weiterhelfen.»
«Bei uns enden Projekte nicht mit dem Ende des Semesters.»Ivan Hanselmann
Lehre der Zukunft?
Die Art und Weise, wie Studierende im Student Project House lernen, ist für Springman wegweisend für die Lehre der Zukunft. Der Rektorin ist es ein grosses Anliegen, neben fachlichen und methodischen Kompetenzen auch die persönlichen und sozialen verstärkt zu fördern: sich und andere zu motivieren etwa, verständlich zu kommunizieren, mit Veränderungen umzugehen oder seine eigenen Grenzen zu kennen.
Das Student Project House ist deshalb längst nicht das einzige Projekt mit diesem Ziel: Departementsübergreifend vermitteln die ETH-Woche oder der ETH Singapore Month ähnliche Erlebnisse: In interdisziplinären Teams arbeiten Studierende an Lösungen für aktuelle Herausforderungen. Auch die studentische Initiative «Prisma» will interdisziplinäre Projektarbeit in bestehenden Kursen stärker verbreiten. Um solche Formate zu stärken, wurden sie kürzlich organisatorisch zusammengefasst und fest im Rektorat angesiedelt. Neben den zentralen Angeboten gehören grosse und kleine Projekte natürlich in fast allen Studiengängen fest zum Curriculum.
Trotzdem unterscheiden sich all diese Formate in einem Punkt vom Student Project House. «Bei uns enden Projekte nicht mit dem Ende des Semesters», sagt Hanselmann. Wer iteratives Lernen und Unternehmertum wirklich leben wolle, brauche oft länger als ein Semester. Es gibt denn auch viele Projekte im Student Project House, die ihren Ursprung in einer curricularen Projektarbeit hatten und die ihre Urheber nicht mehr losgelassen haben.
Sarah Springman freut dies: «Bei Projektteams, sei es im Student Project House oder
anderswo, sehe ich diese Neugierde, wie man sie von Erstklässlern kennt – bis hin zur Körpersprache. Mit dieser Motivation lernt es sich so viel besser!»
Sie wünscht sich diese Stimmung auch in den curricularen Lehrveranstaltungen öfter. Leider lasse der Kanon des zu vermittelnden Wissens aber oft wenig Raum für aktivierende Elemente. Vielleicht hat aber ausgerechnet die Pandemie eine Tür dafür geöffnet: Denn durch den erzwungenen Fernunterricht haben viel mehr Dozierende ihre Vorlesungen aufgezeichnet. Wenn sich die Studierenden einen Teil des Wissens ausserhalb der Vorlesungssäle aneignen, wird künftig vielleicht in noch mehr Lehrveranstaltungen wertvolle Zeit frei für Lehrformen, in denen sich die Studierenden selbstständig auf unbekanntes Terrain begeben können.
Erfahren Sie mehr über das Student Project House.
Gefördert durch Donatorinnen und Donatoren
Ermöglicht haben das Student Project House wesentliche Beiträge an die externe Seite ETH Foundation durch Donatorinnen und Donatoren wie Franke, Ernst Göhner Stiftung, Georg Wacker, Baugarten Stiftung, Georg und Bertha Schwyzer-Winiker-Stiftung sowie Plastic Omnium.
Dieser Text ist in der Ausgabe 21/04 des ETH-Magazins Globe erschienen.