…denn sie suchen nach Schönheit
Ist Mathematik im Herzen eine ästhetische Disziplin – oder was heisst es, wenn jemand einen Beweis «schön» findet? Und was sagt mathematische Schönheit über physikalische Zusammenhänge aus?
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Bis heute kennt die Mathematik schöne Sachverhalte, die auch im Alltag bekannt sind – zum Beispiel den Goldenen Schnitt, der seit der Antike den Ruf hat, die ideale Proportion abzubilden. Es gibt Mathematiker:innen, die sagen, ohne ästhetischen Sinn könne man kaum zu mathematischen Entdeckungen gelangen. «Schönheit berührt sicherlich die Seele der Mathematiker:innen», sagt Ana Cannas da Silva, ETH-Professorin für Mathematik, die im Gebiet der Geometrie forscht. Für sie gehen mathematische und ästhetische Neugier Hand in Hand: In Portugal zum Beispiel werden Gehsteige oft in komplexen symmetrischen Mustern gepflastert, die mathematische Phänomene veranschaulichen. Darüber hat sie den Bildband «Symmetry step by step» verfasst.
Auf die Frage, was Schönheit in der Mathematik bedeute, sagt Ana Cannas da Silva, es gehe nicht nur um Visuelles, es gehe auch um Sprache. Sie teilt die Auffassung des Wegbereiters der modernen Physik, Galileo Galilei (1564 – 1642), das Universum sei in der Sprache der Mathematik geschrieben.
Eine intensive Erfahrung
Eine verbindliche Regel, was mathematische Schönheit ausmacht, gibt es nicht: «Für mich ist die Abstraktheit der Mathematik die Quelle ihrer Schönheit», sagt Emmanuel Kowalski, der über analytische Zahlentheorie forscht, ein Gebiet der reinen Mathematik. Er räumt ein: «Mathematiker:innen empfinden nicht alle dieselben Dinge auf dieselbe Weise als schön, aber die allermeisten machen diese intensive Erfahrung, dass Mathematik schön ist.» Hier schliesst Cannas da Silva an: «Die Wahrnehmung von Einfachheit, Klarheit, Eleganz und Symmetrie wird oft mit mathematischer Schönheit in Verbindung gebracht.» Auch wenn kein Konsens darüber besteht, was Schönheit eigentlich bedeutet, so stimmen Mathematiker:innen innerhalb einer Teilgemeinschaft in der Regel darin überein, welche Theoreme, Beweise, Formeln oder Konstruktionen in ihrem Bereich am schönsten sind.
«Ein schöner Beweis ist meist prägnant und enthält überraschende neue Ideen.»Benny Sudakov
Der Königsweg der Mathematik zur Wahrheit ist der Beweis. Als schön oder besser «elegant» gelten Beweise, wenn sie ihre Aussagen möglichst direkt aus bewiesenen, wahren Aussagen herleiten, sparsam mit zusätzlichen Annahmen umgehen, viele Probleme lösen und neue Ergebnisse ermöglichen. «Ein schöner Beweis ist meist prägnant und enthält überraschende neue Ideen. Es gibt zwar beeindruckende Ergebnisse mit langen, technischen Beweisen, aber wenn wir sie besser verstehen, finden wir oft kürzere und elegantere Beweise», erklärt Benny Sudakov, Mathematiker mit Spezialgebiet Kombinatorik.
Strittiger ist, was eine Theorie oder Gleichungen schön macht. Aktuell gibt es keine allgemein akzeptierte mathematische Regel, kein Kriterium und keinen Automatismus dafür. Hingegen sprechen Mathematiker:innen oft von Schönheit, wenn ein Ergebnis oder ein Beweis eine neue Verbindung zwischen zwei Bereichen oder Aussagen der Mathematik herstellt, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Solche Verbindungen gelten als tiefe Beziehungen. Kowalski sagt: «Die stärksten ästhetischen Empfindungen habe ich, wenn voneinander völlig unabhängige Ansätze auf tiefgreifende Weise zusammentreffen.» In solchen Momenten erlebe er, wie sehr die einzelnen Teile der Mathematik miteinander verbunden seien.
Schöne Gleichungen
Aufgrund ihrer verbindenden Qualitäten zählen viele die Eulersche Identität zu den schönsten und tiefgründigsten mathematischen Sätzen. Benannt ist sie nach Leonhard Euler (1707 – 1783). Die tiefe Schönheit der Gleichung eiπ+1= 0 rührt daher, dass drei arithmetischen Grundrechenarten genau einmal vorkommen (Addition, Multiplikation und Potenzierung), und dass sie einen einfachen Zusammenhang zwischen fünf der bedeutendsten mathematischen Zahlen herstellt: der eulerschen Zahl e, der imaginären Zahl i, der Kreiszahl Pi, der Zahl 1 und der Null.
«In der Mathematik kann Schönheit ein Anhaltspunkt dafür sein, was wahrscheinlich wahr ist.»Ana Cannas Da Silva
«In der Mathematik kann Schönheit ein Anhaltspunkt dafür sein, was wahrscheinlich wahr ist», sagt Ana Cannas da Silva. Für Emmanuel Kowalski ist Schönheit wie ein Leitprinzip, das zur Wahrheit führen kann. «Ein schöner Satz stärkt das Vertrauen, einen bestimmt Lösungsweg einzuschlagen. Aber man kann sich irren, vor allem, wenn man den Sachverhalt noch zu wenig versteht.» Benny Sudakov gibt zu bedenken: «Auch Theoreme mit unattraktiven Beweisen werden akzeptiert.»
Die Frage der Schönheit eleganter Theorien und Formeln wird auch in mathematisch geprägten Zweigen der Naturwissenschaften diskutiert – etwa in der theoretischen Physik. Dort führt der Königsweg zur Wahrheit über das Experiment. Die allgemeine Relativitätstheorie von Albert Einstein (1879 – 1955) gilt als schön, weil sich ihre mathematischen Aussagen immer wieder messen und empirisch belegen lassen. Nun gibt es in der Physik jedoch Grössen, die sich mathematisch postulieren lassen, aber noch nicht gemessen worden sind – auch nicht mit Grossforschungsanlagen wie Teilchenbeschleunigern oder Weltraumteleskopen. Die Physikerin Sabine Hossenfelder hat deshalb die Überzeugung kritisiert, die besten physikalischen Theorien seien schön und schöne Theorien müssten wahr sein.
Eugene Demler, seit 2021 Professor für Theoretische Physik an der ETH, sieht es so: «Meine Erfahrung in der Physik ist, dass wenn jemand etwas über die Natur entdeckt, das wahr ist, man es auf elegante und schöne Weise beschreiben kann. Unser grösstes Bestreben ist es, eine fundamentale Gleichung mit wenigen Buchstaben zu finden. Das ist wirklich schön.»
Als Beispiel für eine schöne, grundlegende Gleichung nennt er das von Albert Einstein entdeckte Naturgesetz E=mc². Es besagt, dass wenn sich die Energie ändert, sich auch die Masse ändert und umgekehrt. Die Gültigkeit der Gleichung hat sich in vielen Experimenten bestätigt. Den Schluss, dass schöne mathematische Aussagen wahr seien, zieht er nicht: «Theoretische Physiker werden oft in Wahrheitssuchende und Schönheitssuchende unterteilt. Die Grossen erreichen beides.»
«Globe» Schönheit und Wissenschaft
Dieser Text ist in der Ausgabe 22/02 des ETH-Magazins Globe erschienen.