Barrieren mit Prototypen überwinden

Morgen präsentieren Bachelor-Studierende des Departements Maschinenbau und Verfahrenstechnik sieben, in intensiver, einjähriger Arbeit ausgetüftelte Prototypen einem grösseren Publikum. ETH-News stellt vorab zwei Fokus-Projekte vor.

Vergrösserte Ansicht: Rollstuhl Scalevo (Bild: ETH Zürich)
Der elektrisch betriebene Rollstuhl Scalevo kann Treppen steigen. (Bild: ETH Zürich / Scalevo)

Motivierte Studierende haben auch dieses Jahr wieder die Chance genutzt, im Rahmen der sogenannten Fokus-Projekte ihre Produktidee in die Realität umzusetzen: über den Entwurf, das Design, die Produktion bis hin zum Marketing haben sie selbständig sämtliche Schritte der Produktentwicklung durchlaufen. Dabei entstanden sind unter anderem zwei neuartige technische Hilfssysteme für Menschen mit einer körperlichen Behinderung.

Elektrischer Rollstuhl macht Treppen befahrbar

Unter dem klingenden Namen Scalevo (abgeleitet aus dem Lateinischen «Scala» für Treppe und «levere» für heben) hat eine Studierendengruppe einen aussergewöhnlichen Rollstuhl entwickelt: Wie der Name bereits erahnen lässt, vermag der elektrisch betriebene Rollstuhl Stufen zu erklimmen.

Vergrösserte Ansicht: Rollstuhl Scalevo (Foto: ETH Zürich / Scalevo)
Ausfahrbare Stützräder sorgen für ein sicheres Ankommen am Treppenende. (Foto: ETH Zürich / Scalevo)

Zu Beginn des Projekts stand einzig das Ziel fest. Doch mithilfe welcher Technologie der Rollstuhl die Treppe erklimmen soll, wurde anfangs lange im Team diskutiert. «Wir diskutierten alle grösseren Entscheidungen stets so lange, bis wir uns alle einig waren und einen gemeinschaftliche Entscheid fällen konnten», erinnert sich ETH-Student Beni Winter an den Projektstart. Ausgefallen ist die erste grosse Entscheidung zugunsten ausfahrbarer Raupenbänder, die mit Gummiriffeln versehen sind. Dank den Raupen gleitet das Gefährt ohne Assistenz einer Hilfsperson Treppen rauf und runter. Beim Fahren auf ebenen Flächen balanciert der Rollstuhl – ähnlich einem Segway – auf zwei Rädern. Dadurch ist der Rollstuhl äusserst agil und kann auch bei engeren Platzverhältnissen problemlos gewendet werden. Sensoren überprüfen sowohl beim Geradeaus- als auch beim Treppenfahren laufend die Position des Rollstuhls; droht der Rollstuhl auch nur leicht aus dem Gleichgewicht zu geraten oder vom Kurs abzukommen, gibt der Motor umgehend Gegensteuer.

Ganz ohne Stützräder kommt aber auch Scalevo nicht aus: diese befinden sich auf der hinteren Seite des Rollstuhls. Erreicht der Rollstuhl das Treppenende werden sie automatisch ausgefahren und sorgen so für ein sanftes Ankommen. Die kleinen Räder sind weiter Teil eines Hilfssystems, das es dem Fahrer ermöglicht, kleinere Hindernisse wie Bordsteine zu überwinden.

Die Zusammenarbeit mit zwei Industriedesignern der Zürcher Hochschule der Künste zeigt sich im kompakten Design des Rollstuhls. «Dank ihrer Hilfe ist überhaupt erst ein stimmiger Prototyp entstanden, der den Leuten nicht Angst macht, sondern nach einem fertigen Produkt aussieht», lacht Teammitglied Milan Schilling.

Exoskelett bekommt weiche Knie

Eine zweite, zehnköpfige, hochmotivierte Studierendengruppe, schloss sich zum Team externe Seite VariLeg zusammen. Ihr langfristiges Ziel ist es, Querschnittgelähmten ein Stück ihrer Unabhängigkeit und Mobilität zurückzugeben. Die interdisziplinäre Gruppe arbeitet deshalb unermüdlich an der Entwicklung eines alltagstauglichen Exoskeletts. Diese aussen am Körper angebrachte Hilfskonstruktion soll auf unebenem Gelände trittsicherer sein als bisherige Produkte.

Vergrösserte Ansicht: Exoskelett VariLeg (Foto: ETH Zürich / VariLeg)
Das Exoskelett VariLeg soll einen möglichst natürlichen Gang ermöglichen (Foto: ETH Zürich / VariLeg)

«Kommerzielle Exoskelette funktionieren auf perfekt ebenen Flächen bereits relativ gut», erklärt Teammitglied Manuela Rotach. Stösst der Träger jedoch auf eine Unebenheit – wie zum Beispiel einen herausstehenden Pflasterstein – wird es problematisch: die auf Höhe der Hüfte und Knie angebrachten Motoren fahren stur die von der Software vorgegebenen Bahnen ab. Das Hilfsgerät ist so eingestellt, dass es den angefangenen Schritt erst auf Bodenhöhe beenden kann – da der Stein dies aber verunmöglicht, kippt der Träger des Exoskeletts zur Seite. Um dieser Problematik entgegenzuwirken, haben die Studierenden ihren Prototyp mit einer anpassungsfähigen Steifigkeit versehen. Die nötige Flexibilität im Bein wird über eine spannbare Feder erreicht, die in den Kniebereich des Gerätes eingebaut ist. Diese Feder erlaubt es dem Hilfssystem, automatisch leicht nachzugeben und so kleinere Unebenheiten auszugleichen. Ein weiterer Vorteil der elastischen Nachgiebigkeit besteht darin, dass das Bein nicht in allen Phasen des Bewegungsablaufes aktiv bewegt werden muss, sondern ganz natürlich mitschwingen kann. «Wir sind optimistisch, dass morgen alle einzelnen Komponenten des Systems gut zusammenspielen und wir erste Schritte mithilfe des Exoskeletts vorführen können», sagt Manuela Rotach.

Nächste Station: Cybathlon

Nach dem offiziellen Ende der Fokus-Projekte morgen legen die beiden vorgestellten Fokus-Projektgruppen die Arbeit an ihren Prototypen jedoch noch lange nicht nieder: Die Geräte werden mit Hochdruck weiterentwickelt und werden sich im Rahmen des Cybathlons, eines im Herbst 2016 in Zürich stattfindenden Wettkampfs (siehe Kasten), mit unter anderem bereits etablierten Assistenzsystemen messen können.

Das Team Scalevo wird nebst kleineren mechanischen Verbesserungen den Rollstuhl spezifisch auf die verschiedenen Situationen, die beim Cybathlon bewältigt werden müssen, vorbereiten. Es handelt sich dabei um Herausforderungen wie zum Beispiel das Fahren auf Sand. Auch kleinere Sicherheitslücken müssen bis zur Veranstaltung noch gänzlich geschlossen werden.

Das Exoskelett VariLeg soll bis zum Anlass mit weiteren Funktionen ausgestatet werden; neben gehen soll der Prototyp sich auch hinsetzten, aufstehen und treppensteigen können. Die Weiterentwicklung des in diesem Jahr entwickelten Exoskeletts wird ab Herbst 2015 eine neue Fokus-Projektgruppe vorantreiben. Die diesjährigen Teammitglieder bleiben dem Projekt jedoch verbunden und stehen ihren Nachfolgern mit Rat und Tat zur Seite.

Fokus-Projekte Rollout

Insgesamt sieben Gruppen stellen am Rollout vom 27. Mai 2015 ihre Fokus-Projekte der Öffentlichkeit vor. Zwischen 14.00 und 15.30 Uhr sind die Präsentationen im Audi Max im ETH-Hauptgebäude (HG F 30) zu sehen. Danach werden die Projekte in der Haupthalle des ETH-Hauptgebäudes ausgestellt.

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Cybathlon

Vergrösserte Ansicht: Cybathlon Logo

Der Cybathlon ist ein internationaler Wettkampf, der es Menschen mit physischen Einschränkungen erlaubt, sich dank modernster Hilfsmittel miteinander zu messen. Die verwendeten Hilfsmittel können sowohl kommerzielle Produkte als auch Prototypen aus Forschungslabors sein. Hauptziel der Veranstaltung ist, eine Plattform für die Entwicklung neuartiger Hilfstechnologien, die nützlich und insbesondere für den Alltag geeignet sind, zu bieten. Weiter soll der Anlass Barrieren zwischen Menschen mit Behinderungen, Forschenden und der breiten Öffentlichkeit abbauen.
Der Anlass findet erstmals im Oktober 2016 in Zürich statt.

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