Der Charme der jüngsten Vergangenheit
Der «Monte Verità», der Berg der Wahrheit, war kürzlich Schauplatz eines internationalen Treffens von Historikern auf der Suche nach neuen Deutungsmustern für die Epoche von 1980 bis 2010. David Gugerli, ETH-Professor für Technikgeschichte und Mitorganisator der Konferenz, erzählt im Interview von einer gewagten Konferenzform und seinen Erkenntnissen.
Im historischen Rückblick erweist sich das Jahr 1979 als eine bemerkenswerte Zäsur: Margaret Thatcher wird Premierministerin, im Iran kommt es zu einer folgenschweren Revolution. Sowjetische Truppen marschieren in Afghanistan ein und die Nato führt Abrüstungsgespräche, stationiert in Europa aber gleichzeitig Mittelstreckenraketen. Während sich Michel Foucault mit dem Neoliberalismus beschäftigt, wird «der Markt» zum Zauberwort, weit über die Wirtschaftspolitik von Ronald Reagan hinaus. 1979 ist auch das Jahr, in dem sowohl die Unterhaltungselektronik (Walkman) als auch der Computer (PC) personalisiert wurden.
Die auf diese Zäsur folgenden Jahrzehnte zwischen 1980 und 2010 sind eine schwer fassbare Zeit des Wandels, welche Soziologen, Politologen und Historiker unterschiedlich zu beschreiben versucht haben. Vom «Ende der Geschichte» (Fukuyama) war die Rede, vom «Kampf der Kulturen» (Huntington) und einem «Zeitalter der Brüche» (Rodgers). Über 50 Historiker und Historikerinnen reisten Ende Juni auf den Monte Verità oberhalb von Ascona. Hier wurde der Versuch unternommen, die jüngste Vergangenheit aus geschichtswissenschaftlicher Perspektive besser erforschbar zu machen. David Gugerli, Professor für Technikgeschichte und Mitorganisator des Kongresses, sagt im Interview, weshalb die drei Jahrzehnte so wichtig für die Gegenwart sind.
ETH-News: Herr Gugerli, Sie haben die Konferenz unter den Titel «The Good Years! Historische Verläufe 1980 – 2010» gestellt. Was soll an diesen Jahren, in denen sich so viel auflöste und brüchig wurde, besonders gut gewesen sein?
David Gugerli: Epochenbezeichnungen haben programmatischen Charakter – für die Forschung wie für ihre Resultate. Man kann die jüngste Vergangenheit als Abgesang auf die hochkonjunkturelle Entwicklung vor 1973/74 deuten, sie also als die Zeit «nach dem Boom» und als den rasanten Anfang vom Ende sehen, das Vereinzelung, Ökonomisierung und Hedonismus hervorgebracht hat. Wir finden diese Vorstellung für ein umfassendes Verständnis gesellschaftlichen Wandels allerdings viel zu schmalbrüstig. Daraus spricht eigentlich nur Kulturpessimismus, der längst Gewohnheit wurde, oder eine Überbetonung der Fernwirkung jener Zeit, als Bretton Woods und die keynesianische Wirtschaftspolitik noch zu funktionieren schienen. Deshalb wollten wir ein Gedankenexperiment wagen und für einmal nicht wie gebannt auf das schauen, was seit 1980 den Bach runter ging und vom «No Future» der englischen Punks geprägt war.
Dennoch klingt die Bezeichnung The Good Years etwas ironisch. Welche positiven Zeichen gab es zu jener Zeit, die diese Bezeichnung dennoch «rechtfertigen»?
Spätestens ab 1985 entstand eine neue Weltordnung mit ganz neuen, überraschenden Kommunikationsweisen, neuen Öffentlichkeiten und anderen Privatsphären auf vielen Kanälen. Die 1980er und die 1990er Jahre waren auch eine Zeit der Hoffnungen, der begründbaren Versprechen, einer erfolgreichen Emanzipation und zusätzlicher Freiheitsgewinne. Die Emerging Markets verschoben die Ungleichgewichte der Weltökonomie, die Produktivität nahm in vielen Produktionssparten zu. Es schien uns deshalb eine produktive und provozierende Fragerichtung, von den «Good Years» zu sprechen.
Wie haben Sie diesen anderen Blick auf die Jahre zwischen 1980 und 2010 in die Konferenz gebracht?
Wir haben prominente Historikerinnen und Historiker gebeten, aus der Perspektive ihres Forschungsfeldes wie etwa Wirtschafts-, Medien- oder Technikgeschichte – ein Gedankenexperiment zu wagen. Was passiert, wenn man die Frage nach dem Untergang der Welt ersetzt und stattdessen nach Hoffnungen und Erwartungen fragt? Gleichzeitig baten wir jeweils zwei junge Kolleginnen oder Kollegen um einen kurzen kritischen Kommentar zu den Referaten der «Big Shots». Nach einer verordneten Kaffeepause mit angeregten Gesprächen hatten wir im Plenum eine weitere Stunde Zeit für präzise Diskussionen, Ergänzungen, Korrekturen und Verschärfungen der Statements reserviert. Dieses Format hat zu einer überaus angeregten Debatte geführt.
Sie leiten die Professur für Technikgeschichte. Welche nennenswerten Veränderungen fanden aus Ihrer Warte in den Jahren zwischen 1980 und 2010 statt?
Da gäbe es viel aufzuzählen. Die bedeutendste Veränderung ist aber sicher darin zu sehen, dass ein ständig wachsender Anteil unserer Arbeit, unserer Transaktionen, unseres Handelns und unserer Selbstverständigung in und mit Rechnern geschieht, und zwar im privaten wie im öffentlichen Raum. Auffällig dabei ist das Aufkommen einer Szenarien-Kultur in den 1980er- und 1990er-Jahren: Zukunft wurde immer mehr in computergestützten Simulationsmodellen verfügbar gehalten, mit Optionenvielfalt versehen und damit weniger geplant und schon gar nicht mehr programmiert. Dieses Phänomen findet man in den Klimawissenschaften, in der Demographie oder der Konjunkturprognose. Voraussetzung für diese Gestaltungsform der Zukunft ist meistens ein Rückgriff auf minimale, mit hoher Flexibilität kombinierbare Elemente, im Extremfall das Bit oder ein Pixel. Hinzu kommt die Kombination von spielerischer Kreativität und mechanistischer Sozialphysik. Agent Based Modelling ist beispielsweise seit den 1980er Jahre ein Feld, auf dem sich spieltheoretische Fragen mit reduktionistischen Modellen sozialer Interaktion kombinieren lassen.
Welche Bedeutung hatte der exponentielle Anstieg von Rechenleistung?
Ich glaube nicht, dass sich Technologien auf deterministische Weise auswirken. Aber Rechner haben tatsächlich nicht nur im Supercomputing und mit grossen Datenbanken, sondern auch mit simplen Spreadsheets - Visicalc kommt 1979, Excel 1985, Quatro Pro 1987 - die Möglichkeit geboten, Maschinen, Ressourcen, Personal, Wertpapiere und Produktepaletten so zu konfigurieren, dass sich mit ihnen höchst individuelle Präferenzen bedienen liessen und situationsgerechte Entscheidungen gefällt werden konnten. Die Bilder, die wir uns von der Welt machen und nach denen wir handeln, müssen allerdings schon vorhanden sein, damit so etwas wie steigende Rechenleistung, Visualisierung der Verhältnisse auf dem Desktop oder Büroarbeit mit dem Smartphone überhaupt genutzt werden.
Welche Konsequenzen hatte dies für die Gesellschaft?
Manche sagen, es hätte zum Ende der Gesellschaft geführt, andere sagen, die Gesellschaft sei dynamischer geworden. Beide setzen auf rechnergestützte Überwachung der Verhältnisse und etikettieren jene Überwachung, die ihnen suspekt ist, wahlweise mit Big Brother, Erbsenzählerei oder moralischem Untergang. Was ihnen jedoch daran passt, beschreiben sie als Schaffung von Transparenz, Erhöhung der Flexibilität, als Qualitätssicherung oder als verbesserte Compliance. Die Kultur des Controlling betrifft ja längst nicht nur mehr technische oder betriebswirtschaftliche Prozesse, sondern zum Beispiel auch die Evaluation von Schulprogrammen, die körperliche Entwicklung von Kindern oder die Überwachung öffentlicher Räume, kritischer Grenzwerte und schmelzender Gletscher.
Wurde basierend auf der historischen Analyse während der Konferenz auch ein Blick in die Zukunft geworfen?
Natürlich haben wir auch versucht, uns ein Bild über die erwartbaren Entwicklungen in der Eurozone, in Europa und in Griechenland zu machen. Was ist passiert? Was wird gespielt? Um welche Einsätze geht es? Was ist zu erwarten? Die ersten drei Fragen wurden mit geballter Kompetenz beantwortet. Bei der letzten wurde es schwierig. Krisenhafter Wandel zeichnet sich eben gerade dadurch aus, dass einem die Spielregeln und die Erwartungsstabilität abhandenkommen. Ausgerechnet dann, wenn wir Prognosen am nötigsten hätten, lassen sie sich nicht herstellen. Nein, wir sind Spezialisten für gesellschaftlichen Wandel und haben die Kompetenz, diesen Wandel dort zu beobachten, wo dies möglich ist, nämlich in der Vergangenheit. Über den Wandel, der sich in der Zukunft ergeben haben wird, lassen wir andere spekulieren.
Zur Person
David Gugerli ist seit 1997 Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich. Er ist Gründungsmitglied des Zentrums für die Geschichte des Wissens, das von der ETH und der Universität Zürich getragen wird.
«The Good Years! Historische Verläufe 1980 – 2010», lautete der Titel einer Konferenz, die vom 29.06 bis 3.07.2015 im Congressi Stefano Franscini (CSF) auf dem Monte Verità stattfand. Sie wurde von David Gugerli, Jakob Tanner, Monika Dommann, Gisela Hürlimann, Magaly Tornay und Roman Wild vorbereitet und organisiert.