Naturwissenschaften und Technik anders betrachtet
«Science in Perspective / Wissenschaft im Kontext» heisst ein neues Kursprogramm an der ETH Zürich, das Studierenden der Natur- und Ingenieurwissenschaften die übergreifenden normativen, historischen und kulturellen Perspektiven ihres Fachgebiets vermittelt.
Seit der Gründung der ETH Zürich als Polytechnikum im Jahr 1855 sind Geisteswissenschaften Teil ihres Unterrichts (z.B. Literatur, Philosophie, Jurisprudenz). Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein folgten sie, auf den Idealen der Aufklärung aufbauend, dem Ziel einer ganzheitlichen Persönlichkeitsbildung. Die Abgängerinnen und Abgänger der ETH Zürich sollten sowohl mit ihrem naturwissenschaftlichen und technischen Fachwissen als auch als ganzheitlich denkende Bürgerinnen und Bürger zur gesellschaftlichen Entwicklung beitragen.
Seit der Jahrtausendwende haben sich die Ansprüche an die Geistes- und Sozialwissenschaften an der ETH Zürich gewandelt: Wissenschaftliche und technische Innovationen treten immer schneller auf und verändern das Leben der Menschen (Stichworte: Atomkraft, Computerisierung, Mobilität, Gentechnik). Angesichts dieser Entwicklung wird von Studierenden, Forschenden und Fachpersonen der Ingenieur- und Naturwissenschaften auch erwartet, dass sie die Voraussetzungen und Auswirkungen ihres Fachs reflektieren und in ihre Lösungsansätze einbeziehen können.
Geisteswissenschaften mit Technologiebezug
Anstatt - ergänzend zum natur- und ingenieurwissenschaftlichen Unterricht - eine humanistisch-künstlerische Bildung anzubieten, richten die Geistes- und Sozialwissenschaften der ETH Zürich ihre Lehre und Forschung auf die Themen und den Lehrstoff der Natur- und Ingenieurwissenschaften aus. Diese fächerverbindende Verzahnung war schon der Leitgedanke, als die ETH Zürich im Jahr 2000 das Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften D-GESS gründete.
In der Forschung zeichnet sich die technologiebezogene Ausrichtung deutlich ab: So forschen am D-GESS zum Beispiel Wissenschaftshistoriker, die auch als Neurophysiologen oder Mathematiker gearbeitet haben, Soziologen mit Fachhintergrund in der Physik, Philosophen mit Kompetenzen in Biologie, Physik und mathematischer Logik oder auch Politikwissenschaftler mit Know-how aus den Energietechnologien.
Mit Beginn des Herbstsemesters 2016 wird nun die geistes-, sozial und staatswissenschaftliche Lehre an der ETH Zürich noch direkter – und zweisprachig – mit dem Unterricht in den natur- und ingenieurwissenschaftlichen Kernfächern verknüpft. «Science in Perspective / Wissenschaft in Kontext» heisst das neue Studienprogramm, das Ende August mit einer kleinen Feier in der Semperaula lanciert worden ist und das bisherige «Pflichtwahlfach» ersetzt.
Auf die Fachbedürfnisse zugeschnitten
Kennzeichnend für das neue Programm ist, dass die geistes- und sozialwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen auf die Fachbedürfnisse der jeweiligen natur- und ingenieurwissenschaftlichen Studiengänge zugeschnitten sind. Der Name «Science in Perspective» oder «Wissenschaft im Kontext» rührt daher, dass die Studierenden am D-GESS andere Blickwinkel auf ihre Kernfächer kennen lernen und so ihr Fachwissen in gesellschaftliche Zusammenhänge einordnen können.
Für den Ansatz von «Science in Perspective» typisch sind Fragen wie zum Beispiel: Wie verändern neue Forschungstechnologien die Art und Weise, wie wissenschaftliche Erkenntnis erzeugt wird? Wieso setzen sich bestimmte Technologien durch und andere nicht? Warum wird in alte Technologien investiert? Wie verändert das Internet das Verständnis von geistigem Eigentum? Was bedeutet Verantwortung für Naturwissenschaftlerinnen und Techniker? Welche politischen Konsequenzen hat die Gentechnik?
Wie vielseitig und anregend dieser Ansatz in Lehre und Forschung ist, zeigt ein neuer Film, den das Departement Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften in diesem Tagen veröffentlicht hat. In nur fünf Minuten vermitteln David Gugerli, Professor für Technikgeschichte, Tobias Schmidt, Professor für Energiepolitik, Renate Schubert, Professorin für Nationalökonomie, Stefan Bechtold, Professor für Geistiges Eigentum, sowie ETH-Rektorin Sarah Springman einen lebhaften Eindruck, wie das neue Kursprogramm aussieht und welchen Wert es für ein Studium an der ETH Zürich hat.
Fachleute mit sozialem und normativem Weitblick
Für Michael Hampe, Professor für Philosophie und Leiter des Departements, liegt der Wert von «Science in Perspective» darin, dass die Studierenden sich mit den übergreifenden normativen, historischen und kulturellen Perspektiven der Natur- und Ingenieurwissenschaften auseinandersetzen. Auf diese Weise erfahren sie, so Hampe, «wie in der Vergangenheit soziale und politische Entwicklungen die naturwissenschaftliche-technische Erkenntnis gefördert oder blockiert haben und in welchem sozialen und politischen Kontext gegenwärtig ihre Arbeit stattfindet.»
An diesem Punkt schliesst Hampe an das ursprüngliche Bildungsideal der Aufklärung an: Wer neben den Grundlagen und Methoden seines Fachs auch dessen gesellschaftliche und kulturelle Voraussetzungen kennt, kann sich später auch als Fachperson mit sozialem und normativem Weitblick auszeichnen oder sich für den Wert der freien Forschung einsetzen: «Die Studierenden der ETH Zürich lernen, dass es gesellschaftliche Bedingungen ihrer Arbeit gibt, die fragil sind, die wieder verschwinden können, für die man sich engagieren muss, für die sie sich selbst engagieren müssen, denn niemand sonst wird es für sie tun.»