Nicht ganz von Null auf Hundert
Geschlossene Hochschule, leere Hörsäle - seit 16. März findet kein Präsenzunterricht mehr an der ETH Zürich statt. Dank Online Teaching müssen die Studierenden dennoch nicht auf ihre Vorlesungen verzichten.
Es herrscht Lockdown an der ETH. In den Gebäuden ist es ruhig. Doch der Unterricht geht weiter – nur anders als bisher. Was in Vor-Corona-Zeiten nur hier und da ausprobiert oder gezielt eingesetzt wurde, ist nun plötzlich praktisch über Nacht der einzig gangbare Weg: Alle Dozierenden der ETH Zürich bieten ihre Vorlesungen im Online Teaching an. Ein Kraftakt, nicht nur für Dozierende und Studierende, sondern auch für alle, die ihn technisch oder didaktisch unterstützen. Dazu gehört beispielsweise die Abteilung Lehrentwicklung und -technologie LET.
Auch für die ETH eine Herausforderung
«Die ETH hat eine hervorragende technische Infrastruktur, sodass wir die plötzliche Nachfrage sofort abfangen konnten», sagt Gerd Kortemeyer, Leiter der Abteilung. «Auch gab es bereits robuste und bewährte Lösungen wie Hörsaalaufnahmen, die Lernplattform Moodle, die ETH-eigene Dropbox Polybox und Anderes». Doch auch wenn die Vorbereitungen auf die Umstellung auf Fernunterricht schon in vielen zentralen Einrichtung Anfang März begannen, war die Situation alles andere als einfach. Denn die ETH setzt in normalen Zeiten stark auf Präsenzlehre. Die direkte Interaktion zwischen Studierenden und Lehrenden, die gleichzeitig Forschende sind, ist ein zentrales Merkmal der Hochschule. «Insofern hat die ETH, anders als man vielleicht von einer technischen Hochschule erwarten würde, weniger Erfahrung mit Online-Unterricht als manche andere Hochschule, namentlich solche im Ausland», gibt Kortemeyer zu.
Entsprechend waren die wenigsten Systeme und Prozesse für praktisch flächendeckendes, sofortiges Online Teaching ausgelegt, wie Thomas Piendl, Mitarbeiter IT Services Lehre, darlegt. «Als es darauf ankam, zeigte sich aber die Stärke unserer technischen Hochschule, eine solche Herausforderung kreativ und doch auch pragmatisch anzugehen», freut sich der IT-Spezialist. «Extrem hilfreich für uns war auch, dass man sich auf die langjährige gute Zusammenarbeit mit den Kolleginnen und Kollegen in den verschiedenen Bereichen der Informatikdienste verlassen kann, um zum Teil auch manchmal unkonventionelle Lösungen im Infrastrukturbereich schnell realisieren zu können».
«Die ETH hat, anders als man vielleicht von einer technischen Hochschule erwarten würde, weniger Erfahrung mit Online-Unterricht als manche andere Hochschule, namentlich solche im Ausland.» Gerd Kortemeyer, Leiter LET
Eine der wichtigsten Entscheidungen war, zeitnah, unbürokratisch und in grossem Rahmen ein geeignetes Tool für das Online Teaching zur Verfügung zu stellen. Die Wahl fiel auf Zoom, eine kommerzielle Software für Videokonferenzen, Webinars etc. «Durch Zoom ist es möglich, Präsenzlehre, wenn auch mit einigen Anpassungen und Abstrichen, online abbilden zu können», erklärt Kortemeyer.
Positives Feedback von Dozierenden und Studierenden
Diese Entscheidung kommt auch bei Dozierenden und Studierenden gut an. «Mir geht’s erstaunlich gut mit Zoom von zuhause aus. Ich sehe, dass gerade mehr als 300 Studierende zuschauen, habe dank Chat Interaktionen mit den Studierenden, und es kommen tatsächlich mehr Fragen als sonst im Hörsaal», meldet Andreas Steiger, Dozent am Departement Mathematik. In Zeiten, in denen alle aufgerufen sind, nach Möglichkeit zuhause zu bleiben, sind die Studierenden dankbar für anregenden Online-Unterricht: «Ich habe bereits E-Mails von Studierenden bekommen, dass so sogar "Stubenarrest" Spass mache», erzählt Steiger.
Auch das Departement Physik setzt auf Zoom – allerdings ergänzt mit einer externen Kamera, die im Hörsaal auf die Tafel gerichtet ist. Dozierende unterrichten nun aus leeren Hörsälen via Zoom. «In den grossen Physikvorlesungen sind wir auf die Tafel und auf das Zeigen der Hörsaalexperimente angewiesen», erklärt Guillaume Schiltz, der als Lehrspezialist am Departement Physik andere Dozierende am Departement bei der Entwicklung neuer Lehrformen unterstützt. «Wir haben am 14./15. März in einer Nacht- und Nebelaktion die Hörsäle so ausgestattet, dass Dozierende dort ihre Vorlesung so live streamen und auch mit den Studierenden interagieren können», berichtet Schiltz.
Lösungen für Praktika
Eine grosse Herausforderung ist die Weiterführung der Praktika, denn die Studierenden können nun auch nicht mehr mit den Laborgeräten arbeiten. In den Physikpraktika hat man jetzt begonnen, eigene Simulationen zu erstellen. Damit können die Studierenden wenigstens Messdaten durch die Steuerung der (virtuellen) Instrumente generieren. Daneben soll auch das Smartphone für Experimente zuhause eingesetzt werden. «In jedem Smartphone gibt es eine ganze Menge an Sensoren, die man auch für physikalische Experimente brauchen kann», sagt Schiltz. Die Bereitstellung der Simulationen und Smartphone-Experimente steht allerdings noch am Anfang.
Auch für das Departement Materialwissenschaft war die Weiterführung der Praktika mit all den Werkstoff- und Chemieversuchen eine Sorge. «Zum Glück hat unser Praktikumsleiter schon sehr früh und vorausschauend gehandelt», berichtet Lorenzo De Pietro, Lehrspezialist am D-MATL. Dieser habe die Assistierende vor einiger Zeit ermuntert, die zu der Zeit noch möglichen Experimente in den Laboratorien auf Video aufzuzeichnen. Dies ermöglicht nun mit live Zoom-Meetings, in denen die Experimente und Theorie diskutiert werden, in Verbindung mit den Videos, anderen Zusatzmaterialien und vorbereiteten Datensätzen auch das Praktikum angemessen und ohne Unterbruch weiterzuführen. «Dabei entscheidend war die proaktive und engagierte Mitarbeit unser D-MATL Assistierenden.». Gewisse Werkstoffversuche, zum Beispiel Schmieden und Werkstattlabor lassen sich aber leider nicht einfach ersetzen. «Wir werden diese zu einem anderen Zeitpunkt anbieten müssen», sagt De Pietro.
Härtetest kommt im Langzeitbetrieb
Die ersten Hürden sind also genommen – vielleicht nicht perfekt, aber mit viel Elan. Doch manche Herausforderungen werden sich erst mit der Zeit zeigen. Während sich die Ereignisse überstürzten, waren alle beschäftigt mit der Einrichtung des Homeoffice, dem Lernen von neuen Technologietools, dem Umstellen von Kursen und mehr. «Man war sehr, sehr beschäftigt. Ich denke, erst in den nächsten Wochen wird die Realität einsetzen und die psychologische Belastung zu Tage kommen», gibt Kortemeyer zu bedenken.
«Generell machen unsere Dozierenden wirklich gute Arbeit. Es ist beeindruckend wie schnell sie sich an die neue Situation angepasst haben.»Thomas Piendl
Eine Sorge ist beispielsweise, dass Studierende ohne das bestätigende und unterstützende Umfeld auf dem ETH-Campus einfach aufgeben und das Semester oder gar das Studium abbrechen, wenn sie allein zuhause vor dem Laptop sitzen. Deshalb möchte er verstärkt an Werkzeugen für Online-Assessment arbeiten.
«Generell machen unsere Dozierenden wirklich gute Arbeit. Es ist beeindruckend wie schnell sie sich an die neue Situation angepasst haben, auch wenn es für einige vielleicht das erste Mal ist, dass sie eine Online-Vorlesung durchführen», sagt Thomas Piendl. Doch auch er betont, dass bei aller Geschäftigkeit in diesem Bereich die studentische Perspektive auf den Online-Lehrbetrieb nicht vergessen gehen dürfe: Können wirklich alle an einer Live-Session teilnehmen, passen die Zeitzonen zueinander, ist genügend Bandbreite auf Seite der Studierenden für ein Online-Meeting mit Video vorhanden, wird eine Aufzeichnung einer Online-Vorlesung zum Herunterladen angeboten? All das gelte es mit zu bedenken.
Auch Andreas Reinhardt, Spezialist für Lehrinnovationen am LET, betont: «Jetzt ist intensiver Austausch gefragt». Man müsse auch die Bedürfnisse der Studierenden nun vermehrt aktiv erfragen. Denn es kann durchaus sein, dass bisher funktionierende Lehrmuster nun nicht mehr die richtigen sind: Vielleicht passt das zweistündige Streaming der Vorlesung für sich alleine nicht mehr und die Pausen können noch bewusster mitgestaltet werden. Oder es werden mehr Übungsgelegenheiten gewünscht, um die Lernziele zu erreichen, gibt Reinhardt zu bedenken. Darüber hinaus sei regelmässiges Feedback zum Lernfortschritt der Studierenden wichtig.
Erfahrung und Unterstützung
Bei Null muss man zum Glück nicht anfangen. Einiges wird an der ETH bereits seit längerem eingesetzt, sei es in Form Feedback auf Übungen, Diskussion von möglichen Prüfungsaufgaben, Quizzes, Online-Fragestunden oder Foren. «Es gibt viele Dozierende, die bereits früher auf unterschiedlichste Weise in interaktive, digitale Lernumgebungen investiert haben», sagt Reinhardt. So gab es auch schon vor der Coronakrise an der ETH Lehrveranstaltungen, die im Rahmen eines Blended-Learning- Ansatzes viele Interaktionen und Materialien wie beispielsweise Videos, interaktive Skripts und Simulationen online gestellt haben. Diese digitalen Lernumgebungen können nun auch im reinen Online Teaching eingesetzt werden. Und nicht zuletzt gibt es die Unterstützung durch das LET, das seine Unterstützungsmöglichkeiten nun an die Situation angepasst hat (siehe Kasten).
Jetzt auch an die Zukunft denken
Kortemeyer aber denkt bereits weiter. An der ETH fehle noch eine genügend ausgebaute Infrastruktur für die Verwaltung von Lehrinhalten: Archivierung, Austausch, Mixing und Re-Mixing könnten vieles erleichtern. «Dann muss das Rad nicht immer neu erfunden werden.» Und die unglaublichen Mengen neuer Lehrinhalte, die jetzt erstellt würden, seien dann für die Zukunft nicht verloren. So oder so, Kortemeyer ist überzeugt: Die ETH wird nach Ende der Coranakrise nicht mehr die gleiche sein. Er könne sich vorstellen, dass sich dann vermehrt auf sehr natürliche Weise Mischformen der Lehre etablieren werden, wo Teile der Lehre im Onlinebereich ausgelagert bleiben, während die Präsenzzeiten anders und vielleicht effizienter genutzt werden.
Unterstützungsangebote LET
Webseite Options for remote teaching: Hier wurden erste Hilfestellungen und Tipps für Dozierende bereitgestellt, die laufend angepasst werden.
Online Teaching Forum: Dazu sind alle ETH-Dozierenden eingeladen, Fragen zu stellen, aber auch ihre Erfahrungen zu teilen.
Refresh Teaching Programm: Inspiration über Mittag mit Spezialausgaben zum Thema, neu über Zoom .
Virtual Coffee Breaks: Neu ab dem 26.3. für den sehr informellen Austausch.
Dozierende können sich zudem auf Twitter mit dem Hashtag #ETHZonline über gute Ideen austauschen.
Lehrspezialistinnen und Lehrspezialisten an den Departementen, der LET Support und das LET Beratungsteam sind gute Ansprechpartner. Mehr über LET