Zweite Welle berechnet
Mit einem neuen mathematischen Modell berechnen ETH-Forschende eine mögliche zweite Pandemiewelle in der Schweiz. Eine solche dürfte weit langsamer ansteigen als die erste, sie könnte allerdings mehr Todesopfer fordern.

Falls es in der Schweiz zu einer zweiten Welle der Coronavirus-Pandemie kommen sollte, wird diese deutlich langsamer anrollen als die erste. Dies schliessen Dirk Mohr, Professor für Numerische Materialmodellierung am Departement Maschinenbau und Verfahrenstechnik, und Fadoua Balabdaoui, Senior Scientist am Seminar für Statistik, aus Berechnungen mit einem neuen, von ihnen entwickelten mathematischen Modell.
«Behörden werden daher im Vergleich zur ersten Welle mehr Zeit haben um zu handeln und um Massnahmen laufend anzupassen», sagt Mohr. Die Zahl der Erkrankten werde bei einer allfälligen zweiten Welle langsamer ansteigen, weil unsere Gesellschaft einen Lernprozess durchgemacht habe und sich heute vorsichtiger verhalte als zu Beginn der Pandemie. Selbst wenn die Reproduktionszahl in den nächsten Wochen und Monaten wieder über 1 steigen sollte, wird sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht mehr so hoch sein wie zu Beginn der ersten Infektionswelle Anfang März.
In einer zweiten Welle wird es in der Schweiz daher auch kaum zu einem Engpass im Gesundheitswesen kommen. «Das ist einerseits eine gute Nachricht, andererseits aber auch trügerisch», sagt Mohr. «Besonders heimtückisch wäre eine sehr langsam ansteigende zweite Welle mit einer Reproduktionszahl nur knapp über 1». Auch eine solche könnte zu einer sehr grossen Zahl an zusätzlichen Todesfällen führen. «Um möglichst viele davon zu verhindern, müssen Behörden zu einem Zeitpunkt Massnahmen beschliessen, an dem die Spitäler nicht in der Nähe eines Kollapses stehen. Ohne einen Kapazitätsengpass vor Augen nimmt die Bevölkerung die Bedrohung möglicherweise nicht wahr oder ihr fehlt das Verständnis für einschränkende Massnahmen.»
Jugendliche viel stärkere Treiber als Senioren
Um die Zukunftsszenarien berechnen zu können, kalibrierten die Wissenschaftler ihr Modell mit den von den Kantonen veröffentlichten offiziellen Zahlen der Vergangenheit. Wie beim Erstellen einer Wetterprognose berechnete das Modell die Zukunft. Modell und Berechnungen haben die Forschenden auf der Plattform Medrxiv veröffentlicht. Die Publikation hat den normalen wissenschaftlichen Begutachtungsprozess noch nicht durchlaufen.
Nach dem Wissen der Forschenden handelt es sich bei ihren Modellrechnungen um die ersten, welche für die Schweiz sehr detailliert auch die Demografie und die altersspezifischen Kontaktmuster berücksichtigen. So gelang es ihnen, für die erste Pandemiewelle die Reproduktionszahl für jede Altersgruppe gesondert zu berechnen. Dabei zeigte sich, dass in der Schweiz die 10- bis 20-Jährigen sehr stark und die 35- bis 45-Jährigen ebenfalls überdurchschnittlich zur Verbreitung des Virus beitragen. Die Senioren hingegen tragen stark unterdurchschnittlich dazu bei.
Massnahmen in allen Bereichen sinnvoll
Die Zahl der zu erwartenden Todesopfer bei einer allfälligen zweiten Welle hängt stark von ihrem Ausmass und ihrer Dauer ab, wie auch die Berechnungen zeigen. Ein Szenario der Wissenschaftler geht während einer zweiten Welle von folgenden Annahmen aus: Im öffentlichen Leben gelten dieselben Abstandsregeln wie jetzt, 30 Prozent der Arbeitskräfte würden im Homeoffice arbeiten, alle Schulen wären normal geöffnet, ohne dass dort besondere Massnahmen gelten würden (Verhalten der Schülerinnen und Schüler wie vor der Pandemie).
In diesem Szenario ist in einer zweiten Welle in der Schweiz mit 5000 weiteren Covid-19-Toten zu rechnen – zusätzlich zu den Opfern der ersten Welle, deren Zahl derzeit bei über 1600 liegt. Wegen der längeren Dauer der zweiten Welle würde der maximale tägliche Bedarf an Intensivbetten immer noch unter dem der ersten Welle liegen.
Die Modellrechnungen machen jedoch deutlich, dass alle Massnahmen, welche die Übertragungswahrscheinlichkeit reduzieren, die Zahl der Todesfälle in der Bevölkerung stark verringern würden. Dies gilt für Massnahmen bei allen Altersstufen, insbesondere bei der erwerbstätigen Bevölkerung und den 10- bis 20-jährigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen.
Die Wissenschaftler legten in ihrer Studie einen besonderen Fokus auf diese letzte Altersgruppe: Würde sich die Übertragungswahrscheinlichkeit in den Schulen durch konsequent eingehaltene Abstandsregelungen und Hygienemassnahmen halbieren, so sänke die erwartete Anzahl zusätzlicher Todesfälle in der Gesamtbevölkerung von 5000 auf unter 1000. ETH-Professor Mohr sagt: «Wir müssen uns bewusst sein: Wenn die Reproduktionszahl über 1 liegt, lohnen sich Massnahmen in den Schulen, bei der Arbeit und im öffentlichen Leben. Sie mögen im Einzelfall übertrieben erscheinen, doch sie retten immer Menschenleben.»
Literaturhinweis
Balabdaoui F, Mohr D: Age-stratified model of the COVID-19 epidemic to analyse the impact of relaxing lockdown measures: nowcasting and forecasting for Switzerland, veröffentlicht am 13. Mai 2020 auf Medrxiv, doi: externe Seite 10.1101/2020.05.08.20095059
Kommentare
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Kommt da eigentlich mal wieder etwas neues?
Nach einer Prognose vom Mai und der aktuellen wird die 2. Welle vermutlich im Juli im Anmarsch sein und - wie oben berichtet - länger Dauern. Bulgarien, China, Iran, Israel, Pakistan und Süd-Korea vermelden bereits eine Zunahme von Infizierten. Was wir von Australien, Neuseeland, Singapur, Taiwan und Vietnam lernen können: _ Transparenten Kommunikation mit der Öffentlichkeit – eine gut verständliche Kampagne: intensiv, eindringlich & regelmässig mit dem Ziel zur besseren Selbstverantwortung _ Schnellreaktionsplan im Rahmen der 1. Welle erarbeiten _ Keine Zeit mit der Mobilisierung des medizinischen & militärischen Personals verschwenden _ Statt auf Eliminationsstrategie auf milderne Massnahmen _ Konzentration auf die Isolierung & Rückverfolgung (weitverbreitete Tests & akribisches Contact Tracing) infizierter Personen sowie Wiederholtests _ Einführung von Geldbussen bei Nichteinhaltung der Meldepflicht _ Einsatz neuster Technologie zur Temperaturmessung (Wärmebildkameras) & zum Contact Tracing _ Personen mit Kontakt zu Infizierten strikt in Heimquaräntäne mit SMS-Kontakt zu Gesundheitsämtern über Stand _ Positiv-Getestete hospitalisieren _ Sicherstellen der Verfügbarkeit von Schutz- & Hygienemitteln _ Umgehende Anordnung von Social Distancing & Grenzschliessung statt großangelegte Lockdowns _ Strenge, überwachte Gesundheits- & Sicherheitsrichtlinien _ Und nicht zuletzt: eine klare Führung mit verkürzten Informations- & zeitoptimierten Handlungsprozessen
Spannend. Ich verstehe jedoch etwas nicht ganz: Wenn Spitäler überlastet sind, können Patienten nicht behandelt werden und es sterben Menschen. Das ist soweit klar. Nun würden Hygienemassnahmen laut Studie also die Todeszahlen von 5000 auf 1000 reduzieren. Die 4000 Menschen, die nicht gestorben sind, sind also nicht mit Covid-19 infiziert worden. Wir können aber (soweit ich weiss) nicht davon ausgehen, dass wir das Virus ausrotten werden. Hier kommt nun meine Frage: Die 4000 Mensch haben also einfach Covid noch nicht gekriegt und werden schlussendlich doch daran erkranken oder wird erwartet, dass diese Menschen nie an Covid erkranken werden?
Sie schreiben, dass die 10-20 jährigen überdurchschnittlich stark zur Verbreitung beitragen. Das sind idR Schüler. In der Zeit Ihrer Datenerhebung waren die Schulen ja zum Teil zu. Dennoch macht man nun die Schulen auf. Heisst das nicht, dass hier eine enorme Gefahr droht? Zudem würde mich interessieren warum immer wieder gesagt wird Corona wäre „nicht nur“ eine Grippe. Die Grippe tötete 1918 immerhin 50 Millionen Menschen bei ihrem Erstausbruch. Und da hatte die Erde knapp 2 Milliarden Einwohner. Jetzt sind es ca 4 mal so viele. Ich finde das ziemlich schlimm. Bisher gibt es 400000 Covid 19 Tote weltweit, was erst 1/500 von 4*50 Millionen ist. Covid 19 ist bisher also viel harmloser als die Grippe und dennoch absolut ernst zu nehmen.
Ich bin erstaunt, dass im Modell Lambda_STM nicht altersabhängig ist. Die gängige Meinung war nach meinem Wissensstand, dass Kinder fast imm er asymptomatisch sind.
Diese Annahme hätten wir aufgrund der Datenlage im März/April nicht begründen können (siehe Referenzen im Preprint).
Ist es mit den heutigen Kenntnissen möglich zu berechnen, was passiert wäre, wenn man im März 2020 die Älteren und Vorbelasteten für drei Wochen total geschützt (z.B. mit Daueraufenthalt der Pflegenden), die Schulen offen gelassen, nur grössere Veranstaltungen verboten und für andere Bereiche mit Empfehlungen (Händewaschen, Distanz und Homeoffice) gearbeitet hätte? Mit scheint, dass "Hochfahren" schwieriger ist als das "Herunterfahren". Bedeuten strengere Massnahmen nicht einfach eine längere Dauer der Pandemie?
Diese Rechnung ist machbar. Das Ergebnis für einen ähnlichen hypothetischen Fall ist in Supplementary Fig. 6 unseres Preprints beschrieben. Neben der Dauer wirken sich die Massnahmen auch auf die tägliche Krankenhausauslastung und die Todeszahlen aus.
Man sollte endlich mit dieser Panikmacherei aufhören! Diese Studien, die überhaupt nie Stimmen, gehen mir arg auf den Wecker!
Das Hauptergebnis ist eher beruhigend: die Studie zeigt, dass es bei guten Schutzmassnahmen nicht zu einer zweiten Welle kommen wird. Und sollte sie dennoch kommen, sind die Spitäler wahrscheinlich nicht bedroht und die Behörden hätten mehr Zeit um Massnahmen zubeschliessen als bei der ersten Welle.
Modellbildung und Simulation sollten heute Teil der Allgemeinbildung sein. Ein schönes Anwendungsbeispiel sind Epiedemien, wobei man im Unterricht bei der Komplexität Abstriche machen muss. Diese Fähigkeit müsste den Studierenden schon im Grundlagenunterricht beigebracht werden.
Kurt Hässig: Ich stehe zu meinem Kommentar. Ich räume gern ein, dass ich die Arbeit nicht im Einzelnen angeschaut habe. Aber einen Eindruck davon habe ich sehr wohl. - Es muss erlaubt sein, Kritik zu üben; auch wenn Ihnen dies vielleicht missfällt. (Ich bilde mir ein, ein bisschen was von Wissenschaft(lichkeit) zu verstehen.)
In den letzten Monaten ist nicht eine einzige Prognose eingetroffen. Deshalb kann man getrost und völlig gelassen behaupten, dass auch diese Prognose nicht eintreffen wird. Diese Berechnungen beruhen auf sovielen Variablen und Unbekannten, dass das Ergebnis zwischen 1 und 100000 liegen kann. Trefferwahrscheinlichkeit: 1 zu 100000 Wert der Studie/des Modells: 0.
Beim Modellaufbau haben wir die Daten bis Mitte April genutzt. Die Vorhersagen bis dato (Anfang Juni) stimmen gut mit den bisher beobachteten Zahlen überein. Das Ziel unserer Studie war allerdings nicht die Zukunft vorherzusagen. Die Betrachtung unterschiedlicher Szenarien beleuchtet den Zusammenhang zwischen den Schutzmassnahmen, der Spitalauslastung und den Todesfällen in der Schweiz. Hieraus können sie dann Antworten auf was-wäre-wenn-Fragen ableiten wie z.B. dass bei guten Hygienemassnahmen trotz Lockerungen keine zweite Welle zu erwarten wäre.
Ich finde es sehr gut, dass solche Artikel publiziert werden, die auf die kommende 2. Welle hinweisen. Zum jetzigen Zeitpunkt scheint mir die Bevölkerung nicht besonders vorsichtig: Im ÖV bin ich in der Regel die einzige Maskenträgerin, obwohl der Abstand nicht gewährleistet ist. Mit den geplanten Lockerungen und der Zunahme der Kontakte steigt auch die Gefahr der neuerlichen Verbreitung des Virus. Ich glaube auch, dass sich viele Leute nicht bewusst sind, dass man auch ohne Symptome infiziert sein und so die Krankheit verbreiten kann. Im Gespräch erfahre ich, dass viele Leute das Social Distancing und die Kontrollmassnahmen satt haben.
Danke für die interessante Studie. Das Modell würde ich gerne durch ein alterabhängiges Beta0 ergänzt sehen, da die Ansteckungwahrscheinlichkeit bei jungen Infizierten offenbar kleiner ist als bei älteren. Evt. müssten auch die Anzahl Tage bei Inkubation und Infektiosität altersabhängig modelliert werden, aber da ist es noch schwerer, belastbare Zahlen zu erhalten.
Es ist hilfreich, solche Artikel zu lesen. Besonders in der Schweiz, wo man sich normalerweise an Regeln hält, wird gerade in der Sache stark gegen die Massnahmen getrotzt. Das Virus wird verharmlost, sogar mit dem normalen Grippevirus verglichen. Deswegen wird die zweite Welle kommen, und es wird die Schweiz hart treffen. Die Bevölkerung soll immer wieder aufgeklärt werden, dass das Virus immer noch sehr gefährlich werden kann. Man sollte auch mit Fakten die Jungen aufklären, dass auch bei ihnen mit bleibenden Gesundheitsfolgen gerechnet werden muss. Wenn eine zweite Welle unkontrolliert kommt, wird die Wirtschaft viel grösseren Schaden nehmen.
Wer finanziert eure Studien zum Thema Coronavirus?
Diese Studie benötigte keine Covid-19-spezifische Zusatzfinanzierung.
Ja, das scheint plausibel und logisch. Die Jugendlichen fühlen sich trügerisch geschützt vor der Krankheit. Es bedarf viel Aufklärung über die neue Infektionskrankheit. Diese Aufgaben sollten die Lehrer in den Schulen übernehmen. Auch sollen sie das moderne Tool der Tracing App für Jugendliche schmackhaft machen.
Diese Art von Voraussagen, die sich mit dem Mantel der Wissenschaftlichkeit schmücken, ohne dass auch nur die Grundzüge eines Modells und die wesentlichsten Annahmen kommuniziert werden halte ich für einen patenten Unfug. Der Zauber mit der sog. Reproduktionszahl ist ohnehin irreführend. Ich würde gerne mehr dazu sagen; aber das sprengt das Volumen eines solchen Kommentars. Item. Man soll nicht versuchen, alles zu mathematisieren, sonderrn ab und zu den gesunden Menschenverstand benützen, um eine besondere Lage einzuschätzen!
@ Jürg Fröhlich: Diese Art von Kommentaren, die einfach mal irgendwelche Vorwürfe raushauen, ohne vorher deren Richtigkeit zu prüfen, halte ich für übelsten Stammtisch-Unfug. Sie bemängeln die fehlenden Grundlagen und Annahmen. Hätten Sie sich nur wenige Minuten mit dem Thema befasst, müssten Sie sofort erkannt haben, dass diese sehr wohl publiziert wurden.
Sehr richtig. Viren sind wie das Wetter und nicht 100% der intellektuellen wissenschaftlichen Logik zugänglich. Der Faktor Angst ist nicht berechenbar. Gott sei Dank sind die SchweizerInnen eben wenig ängstlich und benutzen den gesunden Menschenverstand.
Das Modell und die getroffenen Annahmen sind ausführlich in der Studie beschrieben, die oben verlinkt ist.
Besten Dank für diese neue Studie. Mich würde noch interessieren, in welchem Zeitraum eine zweite mögliche zweite Welle berechnet wurde? Ab welchem Monat könnte eine mögliche zweite Welle beginnen und bis wann würde sie andauern?
Laut Modell sollte der Beginn einer möglichen zweite Welle im Juli in den Spitalbelegungen erkennbar werden und dann im Herbst ihr Maximum erreichen. Sie wäre dann gegen Ende des Jahres vorbei. Wir empfehlen Ihnen, auf die Studie zu schauen (oben verlinkt), da der zeitliche Verlauf vom angenommen Szenarium abhängt.