«Das Thema Vielfalt ist auch für Hochschulen sehr wichtig»
Die Antirassismus-Kundgebungen, die nach dem Tod von George Floyd in den USA stattfinden, haben mittlerweile auch Europa und die Schweiz erreicht. ETH-Präsident Joël Mesot und die Delegierte für Chancengleichheit der ETH Schulleitung Renate Schubert erklären, warum dieses Thema auch die ETH Zürich betrifft und was Vielfalt für die Hochschule bedeutet.
Herr Mesot, die Rassismus-Debatte dominiert die Schlagzeilen. Was bedeutet sie für die ETH Zürich?
Joël Mesot: Die Vorgänge in den USA sind bedrückend und lassen sich nicht einfach ausblenden. Auch wenn der Kontext in den USA ein anderer ist als bei uns, zwingt die aktuelle Debatte uns alle dazu, uns mit dem Thema auseinanderzusetzen und über unsere eigenen Vorurteile nachzudenken. Mit Mitarbeitenden und Studierenden aus über 120 Ländern gilt das in besonderem Masse auch für die ETH Zürich. Ich möchte die Frage noch weiter fassen: Wie schaffen wir ein Umfeld, in dem keine Form von Diskriminierung Platz hat? Werden wir an unserer Hochschule der Vielfalt ihrer Angehörigen gerecht?
Diese Fragen reiche ich gleich an Sie als Delegierte für Chancengleichheit weiter. Frau Schubert, wie geht die ETH Zürich mit der Vielfalt ihrer Angehörigen um?
Renate Schubert: Vielfalt ist ein Thema, mit dem sich die ETH Zürich seit einiger Zeit intensiv befasst. Joël Mesot hat schon die Internationalität angesprochen. An der ETH Zürich kommen Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen zusammen und bringen Interessen in ganz verschiedenen Gebieten mit. Wir haben Menschen mit unterschiedlichen sexuellen Orientierungen oder Geschlechtsidentitäten. Und wir haben Menschen unterschiedlichen Alters, Menschen mit und ohne physische oder psychische Beeinträchtigungen sowie Menschen mit zeitlichen oder räumlichen Einschränkungen, etwa im Zusammenhang mit Betreuungsaufgaben, Leistungssport oder Rekonvaleszenz. Um diese Vielfalt und die Kraft, die darin steckt, angemessen und wirksam leben zu können, ist es zunächst einmal wichtig, dass wir uns alle unserer Stereotype über «andere» Gruppen bewusst werden. Es kommt darauf an, bewusst gegen bzw. ohne die Stereotype zu handeln.
Joël Mesot: Für die Schulleitung ist es wichtig zu wissen, welche Fragen diese Gruppen bewegen. So tauscht sich etwa unsere Rektorin Sarah Springman regelmässig mit den verschiedenen Studierendengruppen aus und ist angesichts der aktuellen Ereignisse auf die «African Students Association Zurich» zugegangen. Gleichzeitig haben sich unterschiedliche Institute und Gruppen, wie beispielsweise die Vereinigung des Mittelbaus AVETH, in die Rassismus-Debatte eingeschaltet und Position bezogen. Solche Initiativen sind wichtig und zeigen, dass an der ETH ein Bewusstsein für das Thema vorhanden ist. Dieses Bewusstsein wollen wir weiter fördern, denn wir alle sind nicht vor Vorurteilen gefeit. Wir wollen die Fragen der Vielfalt und Chancengleichheit dort angehen, wo wir am meisten bewegen können: bei uns selbst.
Wie aber geht die ETH diese Fragen konkret an?
Renate Schubert: Vor knapp drei Jahren hat die ETH Zürich die «Respekt-Kampagne» durchgeführt und den Verhaltenskodex «Respekt» in Kraft gesetzt, der für alle ETH-Angehörigen gilt. Dieser Kodex besagt, dass Diskriminierungen, sexuelle Belästigungen, Mobbing sowie Bedrohung und Gewalt in jeglicher Form an der ETH nicht toleriert werden. Das ist das Fundament. Wer von respektlosem Verhalten betroffen ist oder solches beobachtet, kann sich niederschwellig an eine der verschiedenen Anlaufstellen wenden. Weiter bieten wir Trainings für den Umgang mit unbewussten Stereotypen an und haben von diesem Jahr an einen expliziten Vielfaltsfokus im Gleichstellungsmonitoring. Schliesslich gibt es unsere Diversity-Website, auf der wir aktuelle Informationen und Hinweise auf Veranstaltungen für die verschiedenen Gruppen anbieten.
Joël Mesot: Vielfalt ist einer der zentralen Werte der ETH. Mir ist wichtig, dass dieser Wert von allen ETH-Angehörigen geteilt und gelebt wird. Über Vielfalt und über weitere Werte werden wir uns im Rahmen des Reorganisationsprojektes rETHink in den kommenden Monaten ausführlich in der ganzen Hochschule austauschen.
Ausgangspunkt unseres Gesprächs waren die weltweiten Kundgebungen gegen Rassismus und Diskriminierung. Trägt die ETH auch etwas zur Förderung der Chancengleichheit auf globaler Ebene bei?
Joël Mesot: Verschiedene Initiativen und Kompetenzzentren tragen zum Abbau globaler Ungleichheiten bei. So beschäftigt sich das «World Food Systems Center» mit dem Thema einer sicheren und gesunden Ernährung; ein Thema, das arme Länder stärker betrifft als reiche. Ein weiteres Beispiel sind die Sawiris-Stipendien, die es jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus Entwicklungsländern erlauben, ein Doktorat an der ETH zu machen. Um nachhaltige Lösungen für relevante Probleme zu entwickeln, arbeiten wir mit Partnern auf globaler und lokaler Ebene zusammen. Und diese Art von Zusammenarbeit werden wir weiter ausbauen, beispielsweise auch im Rahmen unserer Initiative ETH for Development (ETH4D). Auch in der Klimaforschung geht es um Chancengerechtigkeit. Massive Beeinträchtigungen gerade der ärmeren Länder können nur dann vermieden werden, wenn es uns gelingt, die Treibhausgasemissionen möglichst rasch zu senken. Wichtig sind auch die Arbeiten des Singapore-ETH-Centers, mit denen unter anderem die Resilienz derjenigen Menschen gefördert werden soll, die in dicht besiedelten Städten mit tropischen Temperaturen leben.
Renate Schubert: Hier möchte ich ergänzen, dass die ETH Zürich mit dem NADEL das älteste Weiterbildungsprogramm der Schweizer Entwicklungszusammenarbeit anbietet. Ausserdem sensibilisieren verschiedene Departemente, wie zum Beispiel das Departement für Umweltsystemwissenschaften (D-USYS) die Studierenden auch in den Bachelor- und Masterstudiengängen für global, aber auch national ungleich verteilte Chancen. Und sie vermitteln den Studierenden, mit welchen Methoden und Instrumenten sich diese Ungleichheiten verringern lassen.
Joël Mesot: Renate Schubert hat auch die national ungleich verteilten Chancen angesprochen. Das finde ich wichtig. Da denke ich sofort an den Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen wie der ETH.
Weshalb? Ist dieser Zugang in der Schweiz nicht umfassend gewährleistet?
Joel Mesot: Leider nein. Aus verschiedenen Studien wissen wird, dass etwa begabte Kinder aus bildungsfernen Schichten in der Schweiz schlechtere Aussichten auf einen Platz an einem Gymnasium haben als solche mit Eltern, die bereits studiert haben. Die ETH Zürich will dies ändern. So sensibilisiert etwa die Professur für empirische Lehr- und Lernforschung Lehrerinnen und Lehrer der Primarschulen für diese Thematik. Sie erarbeitet mit ihnen Konzepte, wie Kinder nachhaltig für Naturwissenschaft und Technik begeistert werden können. Derartige Initiativen sorgen für mehr Chancengerechtigkeit und damit für eine bessere Nutzung des Potenzials der jungen Leute für unsere Gesellschaft. Auch das kürzlich von der Schulleitung beschlossene Programm «Youth Academy» wird hier einen Beitrag leisten, weil wir begabten Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit geben, sich engagiert mit MINT-Fächern auseinanderzusetzen.
Noch einmal zurück zum Ausgangspunkt: Hat die ETH Zürich konkrete Pläne, wie sie die durch die «Black-Lives-Matter» Debatte angestossenen Diskussionen künftigen weiterverfolgen will?
Renate Schubert: Ja, die Equal-Stelle für Chancengleichheit und Vielfalt wird in den nächsten Tagen eine Leseliste sowie eine Liste mit sehenswerten Filmen zur Rassismusdebatte auf ihrer Diversity-Webseite veröffentlichen. Für das Herbstsemester 2020 sind Veranstaltungen im Rahmen unserer «Diversity Talks» geplant, die dem Thema Rassismus gewidmet sind. Dabei wird es um die Ereignisse in anderen Ländern, vor allem aber auch um die Situation in der Schweiz gehen. Wir entwickeln diese Formate gemeinsam mit betroffenen Gruppen und freuen uns über die Mitarbeit weiterer interessierter Personen. Und etliche weitere Ideen für mögliche Events zum Thema Vielfalt sind bereits in der Diskussion.
Was denken Sie – wird die ETH Zürich von solchen Events und Diskussionen profitieren?
Renate Schubert: Die ETH Zürich wird dann profitieren, wenn wir alle anerkennen, wie wichtig Chancengleichheit, Vielfalt und Inklusion für die Qualität unserer Hochschule sind.
Joël Mesot: Das sehe ich auch so. Wenn es uns gelingt, die Vielfalt der Meinungen, Perspektiven und Erfahrungen als Bereicherung zu sehen und für unsere Weiterentwicklung zu nutzen, kann die ETH Zürich zum Vorbild für eine offene und wissensbasierte Gesellschaft werden.