Viren, die gesund machen
Hochschulmedizin Zürich hat gestern an ihrem Jahresanlass das neue Flagship-Projekt Immunophage vorgestellt. Ziel ist die Entwicklung therapeutischer Bakteriophagen, die Harnwegsinfektionen heilen. Mit dem Projekt betritt Hochschulmedizin Zürich therapeutisches Neuland.
Bakteriophagen sind hochspezialisierte Viren, die Bakterien befallen und zerstören. Bakterienfresser nannte sie der französisch-kanadische Biologe Félix d’Hérelle, der die Winzlinge vor über 100 Jahren erstmals beschrieb. Zusammen mit seinem Kollegen Georgi Eliava gründete er später das erste Institut für Phagenforschung in Tiflis. Nachdem in den 1920er-Jahren das Penicillin entdeckt wurde, begann der Siegeszug der Antibiotika, und die Phagen gerieten zumindest im Westen in Vergessenheit.
Nun holt Hochschulmedizin Zürich (HMZ) die Viren aus der Versenkung und entwickelt im Projekt externe Seite Immunophage massgeschneiderte Phagen zur Behandlung von Harnwegsinfektionen. Der gewählte Ansatz ist neu und entsprechend mit Risiken behaftet – gleichzeitig auch zukunftsträchtig, weil er eine Lösung zum riesigen Problem der Antibiotikaresistenzen bietet, die gerade im Bereich der Harnwegsinfekte allgegenwärtig sind. «Wir versprechen uns viel von diesem Pionierprojekt im Kampf gegen Antibiotikaresistenzen. Dieser Therapieansatz ist weltweit einzigartig», sagt Thomas M. Kessler, einer der drei Principal Investigators und Professor für Neuro-Urologie an der Universität Zürich sowie Chefarzt der Abteilung für Neuro-Urologie an der Universitätsklinik Balgrist.
Mikrobiologie, Immunologie und Urologie
Möglich wird das zukunftsweisende Projekt, weil im Rahmen der Hochschulmedizin Zürich mehrere Disziplinen zusammenspannen können, die sich ideal ergänzen: Insgesamt arbeiten acht Forschungsgruppen vornehmlich aus der Mikrobiologie, Immunologie und der Urologie am Projekt. So ist Martin Loessner, Professor für Mikrobiologie an der ETH Zürich, für die Phagen und ihr Engineering zuständig.
Die Viren injizieren ihr Erbgut in Bakterien, worauf diese beginnen, gemäss der genetischen Anleitung neue Viren zu produzieren. Die Bakterien gehen schliesslich daran zugrunde. Dabei sind Bakteriophagen wählerisch und infizieren meist nur eine Bakterienart, sie finden sich in Abwässern und Umweltproben. «Wir isolieren Phagen aus der Natur und verändern sie dann entsprechend den klinischen Anforderungen», sagt Loessner.
Engineering, um Phagen aufzurüsten
Harnwegsinfektionen werden meist durch Escherichia coli sowie Klebsiella- und Enterokokken-Stämme ausgelöst. Geplant ist der Aufbau einer Bank mit hunderten von Phagen, die krankheitserregende Bakterien effizient befallen und zerstören. Wie Loessner ausführt, begnüge man sich aber nicht mit diesen natürlichen Formen. Zusätzlich möchte man die Phagen aufrüsten und ihr Heilungspotential durch den Einbau von Genen für sogenannte Immunmodulatoren wie Interleukine und Zytokine erweitern. Werden die Phagen am Infektionsort der Patienten verabreicht, zerstören sie die Bakterien und aktivieren zusätzlich das Immunsystem und damit die Selbstheilung. Geplant ist sogar, durch dieses Engineering Phagen als Immuntherapeutika gegen Krebsformen in der Blase einzusetzen. Die Erweiterung der Phagentherapie auf Infektionen ausserhalb der Harnwege ist ebenfalls vorgesehen.
Das immunologische Know-how kommt in diesem Projekt von Onur Boyman, Professor für klinische Immunologie an der Universität Zürich und Direktor der Klinik für Immunologie am Universitätsspital Zürich. Unter anderem nimmt sein Team die molekularen Vorgänge des Immunsystems bei Patientinnen und Patienten mit wiederkehrenden Harnwegsinfektionen unter die Lupe. Die Resultate erlauben den Aufbau geeigneter Testsysteme, um die Wirksamkeit der Phagen im Labor zu prüfen. Dadurch können die aussichtsreichsten Phagen für die klinischen Versuche identifiziert und personalisiert werden.
Weil auch Bakteriophagen selbst eine Abwehrreaktion des Immunsystems auslösen können, wird es auch darum gehen, bei den Patienten den Antikörperstatus gegen die Phagen zu analysieren. Zusätzlich werden die Phagen auf ihr immunogenes Potential geprüft. Wie in anderen Bereichen des Projekts ist auch hier viel spezialisiertes Wissen vonnöten. «Das Projekt hat grosses Potential, als neue Bakteriophagen-Immuntherapie chronische Harnwegsinfekte zu bekämpfen. Dabei ist die enge Zusammenarbeit unterschiedlicher Disziplinen essentiell», sagt Onur Boyman.
Abhilfe bei Antibiotikarestistenzen
Dazu gehört nicht zuletzt die klinische Seite der Urologie, die Thomas M. Kessler in das Projekt Immunophage einbringen kann. Der Spezialist hat viel Erfahrung mit der Behandlung von Harnwegsinfekten und weiss um die Dringlichkeit neuer therapeutischer Methoden. So plagen sich über ein Drittel der Betroffenen mit wiederkehrenden Infekten. Erschwerend für die Behandlung ist die zunehmende Verbreitung hartnäckiger Resistenzen unter den Erregern gegen gängige Antibiotika.
Gleichzeitig ist Kessler einer der wenigen Ärzte in der Schweiz, die Erfahrungen mit Phagentherapien am Menschen besitzen. Erst kürzlich hat er mit Kollegen aus Tiflis die erste randomisierte und kontrollierte klinische Studie zur Wirksamkeit von Bakteriophagen bei Harnwegsinfektionen durchgeführt. Der Phagen-Cocktail aus Tiflis wurde bei den Patienten mit Antibiotika verglichen und schnitt dabei nicht schlechter ab als die Medikamente. Dies sei nicht genügend, meint Kessler, aber im Projekt Immunophage sei mit besseren Ergebnissen zu rechnen. Denn die Phagen werden wie erläutert auf die Patienten hin selektioniert und immunologisch aufgerüstet.
Die genaue Charakterisierung der heilsamen Viren ist noch aus einem zweiten Grund wichtig: Sie ist eine Voraussetzung zur Akzeptanz dieser neuartigen Therapie durch die Behörden – denn Bakteriophagen sind als Heilmittel in der Schweiz noch nicht zugelassen. Das Projekt Immunophage hat sich auch zum Ziel gesetzt, diesen wichtigen Meilenstein zu erreichen.
Dieser Artikel von Stefan Stöcklin erschien zuerst in den UZH News.
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