Etablierte Denkmuster aufbrechen
Das Collegium Helveticum, der gemeinsame Think Tank der Zürcher Hochschulen ETH, Universität und ZHdK, erhält ab Januar 2021 einen neuen Leiter. ETH-Professor Sebastian Bonhoeffer verbindet seit langem die Leidenschaft für Naturwissenschaften und Kunst und spricht im Interview darüber, wie er seine neue Rolle versteht.
ETH News: Was ist ihre persönliche Motivation, die Leitung des Collegiums zu übernehmen?
Sebastian Bonhoeffer: Orte wie das Collegium fand ich schon immer sehr spannend: Begegnungsorte, in denen Menschen den Freiraum finden, sich ein wenig aus dem Alltagsgeschehen herauszulösen und vertieft über Dinge nachzudenken.
An welche Themen denken Sie konkret?
Die Frage habe ich erwartet, aber ich verstehe meine primäre Rolle nicht so, dass ich bestimme, worüber ideenreiche Köpfe nachdenken sollen. Wer zuviel vorgibt, läuft immer Gefahr, das Denken und die Kreativität einzuschränken. Das machen wir in unserem Alltag schon zu oft. Natürlich braucht es gewisse Leitplanken, aber das Collegium sehe ich hier als einen idealen Ort, kreativen Freiraum zu ermöglichen. Die Themenkreise werden dann «bottom up» entstehen.
Wie definieren Sie Ihre Rolle als neuer Leiter?
Ich möchte Strukturen schaffen, in denen das Collegium lebendiger wird und so ein Umfeld kreieren, in dem beim fächerübergreifenden Austausch wirklich Neues entsteht. Dazu möchte ich vermehrt die akademischen Gäste einbeziehen, welche die Zürcher Hochschulen zum Beispiel im Rahmen eines Sabbaticals besuchen. Diese Menschen sind ja unterwegs, weil sie sich intensiv mit neuen Fragen beschäftigen möchten, sich die Zeit dafür nehmen und offen sind für den Austausch.
Trandisziplinarität bildet das Zentrum des Collegiums. Welches war Ihre letzte wichtige Erkenntnis, die Sie aus einem anderen Bereich erhalten haben?
Das Thema, das uns alle beschäftigt – die Coronakrise – ist für mich ein sehr aktuelles Beispiel dafür. Als Mitglied der Science Task Force habe ich mich fortlaufend und intensiv mit den Kolleginnen aus der Wirtschaftswissenschaft oder der Ethik ausgetauscht. Dabei ist mir bewusst geworden, dass man einer so komplexen Situation nur gerecht wird, wenn man alle Perspektiven einbezieht. Das sehen wir in der Infektionsbiologie: Die Entwicklung von Impfstoffen ist absolut zentral, aber damit alleine hat man noch keine Epidemie ausgerottet – hier braucht es beispielsweise auch die Sozialwissenschaften.
«Erfolg wäre für mich, wenn die Menschen, die sich im Collegium begegnen, dies als eine echte Bereicherung empfinden.»Sebastian Bonhoeffer
Mit der ZHdK ist auch die Kunst in den Think Tank integriert. Was kann die Kunst, was die Wissenschaften nicht können?
Die Kunst spricht in einer ganz anderen Art zu den Menschen als die Wissenschaft, und sie erfasst damit wohl besser die Gesamtheit des menschlichen Wesens. Was aber beide – Kunst und Wissenschaft – brauchen, ist die Kreativität. Ich mache die Erfahrung: Wenn sich die Bereiche treffen, empfinden es alle als sehr bereichernd, weil es ganz neue Perspektiven eröffnet.
Sie selber sind Naturwissenschaftler und Cellist – was bedeutet das für Ihre neue Funktion?
Die Musik ist seit je her meine Leidenschaft und meine Ausbildung als Cellist prägt mich wohl ein bisschen auch als Wissenschaftler. Ich schreibe deswegen nicht ein besseres Paper, aber für mich ist Musik eine Quelle der Inspiration und schärft mein Bewusstsein dafür, was aus einem inneren Antrieb heraus alles möglich ist. Wenn eigenes Interesse und Leidenschaft auf ein freies und inspirierendes Umfeld stossen, kann Grossartiges entstehen – hoffentlich auch am Collegium Helveticum.
Warum braucht es ein Collegium Helveticum?
Da wüsste ich sehr viele Antworten, aber ich beschränke mich auf zwei. Erstens ist es wohl für jeden wichtig, mal aus seinem «Hamsterrad» auszusteigen, um eine neue Perspektive zu gewinnen. Das klingt vielleicht nach «Luxus». Ich bin aber überzeugt, dass das insbesondere in kreativen und akademischen Berufen letztlich die Produktivität erhöht. Erfahrungsberichte zum Beispiel aus dem Wissenschaftskolleg zu Berlin zeigen dies eindrücklich.
Zweitens fehlt aus meiner Sicht in unserer Gesellschaft zunehmend der Raum für offene Debatte. Offene Debatte würde heissen, man steigt mit einer Ansicht in die Diskussion ein und kommt mit einer anderen wieder heraus. Das Collegium ist im besten Sinne interdisziplinär und möchte explizit etablierte Denkmuster aufbrechen.
Und wie macht man das?
Das ist eine Frage der Kultur: Lässt man gegenläufige Meinungen zu? Und was machen wir damit? Menschen sollte man nicht danach beurteilen, wo sie in die Debatte eintreten, sondern wie sie aus dem Prozess herauskommen.
Welche Aussenwirkung soll das Collegium Helveticum haben?
Obwohl wir hier in Zürich hochtalentierte Menschen haben, möchte ich das Collegium internationaler vernetzen, denn auch Zürich braucht eine Aussenperspektive. Aber natürlich müssen wir die Reflexionen auch in die Gesellschaft tragen. Es gab schon immer Ausstellungen und Veranstaltungen, welche für die Öffentlichkeit gedacht waren, zukünftig dürfen sie gerne auch in einem etwas grösseren Rahmen stattfinden. Insgesamt soll es das Collegium Zürich noch attraktiver machen – vielleicht als eine Stadt der «Künstler und Denker»?
Ist das nicht ein bisschen elitär?
Elitär kann ja bedeuten, dass man sich ab- und andere ausgrenzt, und damit kann ich nichts anfangen. Die Türen des Collegiums stehen allen offen, die sich für den fächerübergreifenden Austausch interessieren. Sich intensiv und vertieft mit Dingen zu befassen, bei denen vielleicht nicht ein unmittelbarer Nutzen erkennbar ist, war aber noch nie ein Massenphänomen. Wenn man zum Beispiel an die Salons im 19. und 20. Jahrhundert denkt, wo sich Menschen getroffen und inspiriert haben, dann erkennt man, was für einen ungeheuren kulturellen und geistigen Wert solche Orte haben können.
Was wäre für Sie ein Erfolg?
Nicht jedes Gelingen ist quantifizier- und messbar. Erfolg wäre für mich, wenn die Menschen, die sich im Collegium begegnen, dies als eine echte Bereicherung empfinden und wenn der Austausch, der dort stattfinden wird, ihr Denken, Handeln und Arbeiten nachhaltig beeinflusst.
Zur Person
Sebastian Bonhoeffer wurde 1965 in Tübingen, Deutschland, geboren. Nach seinem Musikstudium in Basel studierte er Physik in München und Wien. Er promovierte in Oxford unter der Leitung von Martin Nowak und Robert May am Institut für Zoologie. Seit 2005 ist Sebastian Bonhoeffer ordentlicher Professor für Theoretische Biologie an der ETH Zürich. Er forscht und lehrt im Bereich der Dynamik von Infektionskrankheiten, weshalb seine Expertise während der Coronapandemie sehr gefragt ist. Sebastian Bonhoeffer lebt in Zürich, ist mit einer Musikerin verheiratet und Vater von zwei Töchtern.
Collegium Helveticum
Das Collegium Helveticum wurde 1997 von der ETH Zürich als Forum für den Dialog zwischen den Wissenschaften gegründet. Erster Leiter des Collegium Helveticum war der Schriftsteller und ETH-Professor Adolf Muschg. Seit 2004 wird das Collegium Helveticum gemeinsam von ETH Zürich und Universität getragen, seit 2016 ist auch die ZHdK Partnerin. Ziel des Collegium Helveticum ist es, den Austausch zwischen den Geistes- und Sozialwissenschaften, den Natur- und Ingenieurwissenschaften, den medizinischen Wissenschaften sowie den Künsten zu fördern. Als einziges externe Seite Institute for Advanced Studies (IAS) in der Schweiz möchte das Collegium Helveticum intellektuelle Freiräume schaffen, um wissenschaftliches und künstlerisches Arbeiten auch jenseits der Paradigmen der Disziplinen und dem Mainstream zu ermöglichen.