Der inspirierende Blick aus dem Auto
ETH-Fellow Marianna Charitonidou untersucht, wie gesellschaftliche Entwicklungen die Architektur beeinflussen. Beispielhaft zeigt sie dies anhand der Erfahrung des Autofahrens.
Architektur wird oft als das stahl- und betongewordene Spiegelbild gesellschaftlicher Entwicklungen bezeichnet. Die Städte und Dörfer, in denen wir leben, und die Bauwerke und Strassenzüge, die uns umgeben, verkörpern die sozialen, kulturellen und politischen Eigenheiten jener Epoche, in der sie entstanden sind.
Für Marianna Charitonidou bilden Architektinnen und Architekten das Bindeglied zwischen den gesellschaftlichen Strömungen einer Zeit und dem, was gebaut wird. «Wie sie ihre Umwelt wahrnehmen, beeinflusst, was sie entwerfen und bauen», erklärt die gebürtige Griechin, die seit 2019 als Postdoktorandin am Institut für Geschichte und Theorie der Architektur der ETH Zürich arbeitet.
In ihrer Forschung zeigt Charitonidou immer wieder auf, wie Architektinnen und Architekten von Erfahrungen inspiriert und von gesellschaftlichen Veränderungen geprägt werden. Dabei will sie jene oft unhinterfragten Entscheidungen und Wertungen offenzulegen, die jedem Entwurfsprozess unweigerlich zu Grunde liegen. Denn wer sich seiner eigenen blinden Flecken bewusst sei, entwerfe viel offener und unbefangener.
Zwischen Theorie und Praxis
Es gibt grob gesagt zwei Sorten von Architektinnen und Architekten: Jene, die entwerfen und bauen und jene, die sich Gedanken darüber machen, was andere entwerfen und bauen. Marianna Charitonidou möchte mit ihrer Forschung zwischen Theorie und Praxis vermitteln.
In ihrer universitären Laufbahn wechselt die ETH-Forscherin immer wieder zwischen diesen beiden Polen: Sie studiert Architektur und Umweltdesign in Thessaloniki, Paris und London und schliesst ihr Diplom 2010 mit dem Entwurf eines Designmuseums ab. Doch gleichzeitig wächst auch ihr Interesse an Architekturtheorie. «Vor allem während meines Erasmusjahrs in Paris habe ich mich vertieft mit dem Werk Le Corbusiers beschäftigt. Das hat mich neugierig gemacht», sagt die Architektin.
Nach ihrer Rückkehr aus London, wo sie einen Master in Science in Sustainable Environmental Design macht, beginnt Charitonidou 2011 ein weiteres Masterstudium im Bereich Architekturtheorie. Ihr wird immer klarer, wie sehr Architektinnen und Architekten von den gesellschaftlichen und kulturellen Strömungen ihrer Zeit geprägt sind. Diese Faszination für den sozialen Kontext der Architektur mündet schliesslich in eine historische Doktorarbeit, in der sie die Wechselwirkung zwischen der Art und Weise, wie Architektinnen und Architekten ihre Umwelt interpretieren, und ihrem architektonischen Ausdruck analysiert.
Architektur und ihre Nutzer
Für ihre Dissertation sichtet Charitonidou Bilder, Skizzen, Pläne und Aufzeichnungen von prägenden Architektinnen und Architekten wie Le Corbusier, Ludwig Mies van der Rohes, Alison und Peter Smithsons oder Aldo Rossi. Sie besucht Archive in Paris, Rom, New York, Los Angeles, Washington und Montreal und erforscht, wie sich das Konzept des Nutzers in der Architektur des 20. Jahrhunderts gewandelt hat.
Architektinnen und Architekten unterschiedlicher Epochen haben bei ihren Entwürfen jeweils unterschiedliche Gruppen im Blick und passen ihre Ausdrucksform diesen Gruppen an. «Während Le Corbusier noch von einem bürgerlichen Nutzer ausging, wurde in den 1960er-Jahren verstärkt das Spannungsfeld zwischen Individuum und Kollektiv thematisiert», erklärt Charitonidou.
Zeitgenössische Architekten wie Rem Koolhaas und Bernard Tschumi, mit dem sich Charitonidou in New York intensiv austauscht, nehmen den Nutzer hingegen eher als fragmentiertes und mehrdimensionales Subjekt wahr. Dies, so Charitonidou, zeige sich wiederum in deren Entwürfen, welche die dynamische und vielfältige Natur der urbaner Bedingungen als Ausgangspunkt nehmen.
Auf der Grundlage ihrer Dissertation veröffentlichte sie mehrere Artikel wie zum Beispiel externe Seite Mies van der Rohe’s Zeitwille: Baukunst between Universality and Individuality, externe Seite Simultaneously Space and Event: Bernard Tschumi’s Conception of Architecture, oder externe Seite Architecture’s Addressees: Drawing as Investigating Device.
Autopia in LA
Während ihres Doktorats an der Technischen Universität in Athen verbringt Marianna Charitonidou einige Zeit in Los Angeles, um im Getty Research Institute Skizzen und Aufzeichnungen des italienischen Architekten Aldo Rossi zu untersuchen. Sie ist beeindruckt, wie stark diese Stadt vom Auto geprägt ist. Nirgendwo wird die Bedeutung des Autoverkehrs für die Architektur und die Stadtentwicklung deutlicher als in der Stadt der mäandernden Highways und endlos anmutenden Boulevards.
In LA kommt Charitonidou auch die Idee für ihr aktuelles Forschungsprojekt: Sie will zeigen, wie der Blick aus dem fahrenden Auto die Wahrnehmung von Architekten beeinflusste und wie die Verbreitung des Autos zu neuen Entwurfsperspektiven führte. «Wer sich die Skizzen, Entwürfe und Schriften von Architekten wie John Lautners, Alison und Peter Smithsons oder Aldo Rossi genauer ansieht, erkennt die Verbindung zwischen den Perspektiven, die das Auto ermöglicht, und den Designstrategien dieser Architektinnen und Architekten», erklärt sie.
Besonders deutlich wird diese Verbindung bei John Lautner, der seine Gebäude als Kameras sah, die ihren Bewohnern Panoramablicke ermöglichen: So diente die langgezogene Panoramaperspektive, die beim Blick aus dem fahrenden Auto entsteht, Lautner zum Beispiel als Vorlage für seine ununterbrochenen Fensterreihen.
Charitonidous Forschung zum Auto führt zu mehreren Veröffentlichungen wie zum Beispiel externe Seite Autopia as new perceptual regime: mobilized gaze and architectural design und einem Seminar zum Thema. Darüber hinaus kuratierte sie die Ausstellung The View from the Car: Autopia as a New Perceptual Regime, die vom 15. September bis zum 15. Oktober 2021 in der Baubibliothek der ETH Zürich zu sehen ist.
Architektur als Einstellung
Für Marianna Charitonidou ist Architektur viel mehr als ein Beruf: «Architektur ist für mich etwas, das mich ständig begleitet. Meine Umwelt ist eine ständige Inspirationsquelle, ich fotografiere viel und mache mir ständig Notizen und Skizzen von Dingen, die mir auffallen.»
Dieser aktive Blick auf die Welt gepaart mit der Tendenz, Eindrücke und Erfahrungen visuell festzuhalten, sei für Architektinnen und Architekten charakteristisch und bilde die Grundlage für ihre Kreativität. «Leider ist diese Lebenseinstellung auch ein bisschen anstrengend, denn man kann diesen Blick nie ganz abschalten.»