Gemeinsam die Zukunft gestalten
Mit dem Projekt rETHink will die ETH Zürich auch in Zukunft Weltspitze bleiben. Präsident Joël Mesot, Vizepräsidentin Julia Dannath und Transformationscoach Dieter Schmid über alte Gewohnheiten und Wow-Momente.
Was sind Ihre persönlichen Ziele von rETHink?
Julia Dannath: Ich bin seit einem Jahr an der ETH und bin begeistert, dass Joël Mesot dieses Projekt lanciert hat. Mein persönliches Ziel ist, dass sich ETH-weit ein Community-Spirit ergibt, der bedeutet: Wir können alle gemeinsam die Zukunft dieser Hochschule mitprägen!
Joël Mesot: Für mich steht das Aufbrechen der Silos an der ETH im Zentrum. Dabei denke ich nicht nur an die Fachgebiete. Ich wünsche mir, dass sich die ETH-Angehörigen auf allen Stufen auf Augenhöhe austauschen und voneinander lernen. Wir müssen uns immer wieder die Frage stellen: Wie gehen wir in den Diskussionen mit den anderen Ständen um?
Dieter Schmid: Als externer Berater in diesem Projekt möchte ich dazu beitragen, die ETH noch handlungsfähiger zu machen und die Gestaltungsspielräume für jede Einzelne und jeden Einzelnen zu vergrössern. Weil Freiheit immer mit Verantwortung einhergeht, müssen wir dafür sorgen, dass wir Verantwortung auf allen Stufen entwickeln können. Die ETH Zürich ist eine Weltklasseorganisation. Mein Ziel ist, dass sie auch im Bereich Führung und Leadership zu den Weltbesten gehört. Wenn ich bei dieser Entwicklung mithelfen kann, dann freut mich das ganz persönlich.
Dieter Schmid, sind Sie optimistisch, dass Ihr Ziel erreicht wird?
Schmid: Es ist noch ein langer Weg. Aber es gibt positive Anzeichen, die mich zuversichtlich stimmen, dass es in diese Richtung geht.
Julia Dannath, Sie haben vom ETH-Spirit gesprochen. Können Sie ihn schon spüren?
Dannath: Der Spirit ist immer dann unmittelbar spürbar, wenn die Menschen in den einzelnen Workstreams von rETHink intensiv zusammenarbeiten und über Themen diskutieren. Es gibt aber auch immer wieder Meetings, in denen ich merke, dass sich Leute zurückziehen, in denen noch kein Nachvorne-Treten in die Verantwortung zu spüren ist. Oft sind die ersten Impulse noch alte, etablierte Gewohnheiten.
Spüren Sie einen Unterschied zwischen Diskussionen innerhalb und ausserhalb von rETHink?
Dannath: Ich glaube, dass die Menschen, die zum inneren Kreis von rETHink gehören und sich für diese intensive Mitarbeit gemeldet haben, naturgemäss offen dafür sind. ETH-weit haben wir die ersten Samen gesetzt, die wir jetzt pflegen können. Aber es ist sicherlich noch ein Weg zu gehen.
Mesot: Zum jetzigen Zeitpunkt dürfen wir aber auch nicht mehr erwarten. Ich bin sehr beeindruckt, was wir schon erreicht haben in diesem inneren Kreis, dem rund 600 ETH-Angehörige aus allen Bereichen angehören. Sie haben Vorschläge gemacht, die mich teils wirklich überrascht haben.
Können Sie dafür ein Beispiel nennen?
Mesot: Wow-Momente hatte ich gerade beim Thema Leadership. Aber auch, als der Vorschlag kam, in den Departementen Ressourcen ganz anders zu teilen. Wenn wir diese Ideen umsetzen, dann sind wir wirklich weltführend.
Das klingt alles sehr vielversprechend. Wo spüren Sie Widerstand?
Mesot: Ich würde nicht von Widerständen sprechen, eher von einer kritischen Haltung. Und das ist gut so. Wir wollen an der ETH ja Leute, die kritisch denken. Wichtig scheint mir, dass wir konstruktiv bleiben. Und ich kann mich an keinen Moment erinnern, in dem es respektlos wurde.
Schmid: Auch ich spürte bisher kaum Widerstand. Wir haben vor einem halben Jahr die Analysephase abgeschlossen, und da war Widerstand auch nicht unbedingt zu erwarten. Jetzt geht es ans Eingemachte, um erste Lösungen. Und da nimmt der Diskussionsbedarf zu. Und wenn es dann um die Implementierung geht, wird es auch Widerstand geben. Denn die Lösungen können naturgemäss nicht immer allen gefallen. Indem wir aber früh möglichst viele Meinungen miteinbeziehen, können wir berechtigte Kritik bereits integrieren und die vorgeschlagenen Lösungen sind breit abgestützt.
Dannath: Am meisten Spannungen gibt es dort, wo es um das Thema Autonomie geht beziehungsweise um gefühlte Fremdbestimmung. Hier geht es ums Aushandeln, kritisches Denken, das Austauschen von Argumenten.
Mesot: Es ist auch eine Frage des Vertrauens. Deshalb diskutieren wir offen und transparent.
ETH-Spirit, Silos aufbrechen, Handlungsfreiheit – das klingt nach «soft goals». Andererseits sprechen wir von einem Organisationsentwicklungsprojekt. Wie passt das zusammen?
Mesot: Die ETH macht so viel richtig und gut. Deshalb müssen wir unsere Stärken unbedingt schützen. Eine Stärke der ETH ist, dass wir Topleute ausbilden, und das ist auch dieser Silo-Struktur zu verdanken. Wie können wir innerhalb dieser Struktur Werkzeuge entwickeln, die uns erlauben, alles mehr zu verknüpfen? Das ist die Kunst. Wenn es zum Beispiel um die Aufgabenteilung zwischen Schulleitung, Departementen und Professuren geht, wird es sehr konkret. Das geht in die Organisationsstruktur. Das sind nicht nur Soft-Komponenten.
Dannath: Auch so einen Spirit hinzukriegen, finde ich ein sehr hartes Ziel. Wenn es eine Organisation schafft, miteinander einen Spirit so aufzubauen, dass diese Art der kritischen Auseinandersetzung zu einem normalen Umgang wird, dass sie Spass macht, dass sie die Angst nimmt, etwas zu verlieren, ist das ein hartes Faktum. Und es prägt die Organisation langfristig.
Wie breit verankert sehen Sie rETHink derzeit?
Mesot: Wir haben das Projekt 2019 gestartet, also vor dem Ausbruch der Pandemie. Darüber bin ich enorm froh. So hatten wir bereits ein Gefäss, in das wir auch Themen integrieren konnten, die sich im Laufe der Monate ergaben. Flexible Arbeitsplätze zum Beispiel oder neue Lernformen. Erst in Krisenzeiten Massnahmen zu ergreifen, ist viel schwieriger. Wir haben das eindrücklich bei der Nationalen Covid-19-Taskforce gesehen. Wäre so ein wissenschaftliches Beratungsgremium bereits installiert gewesen, hätte es dieses Misstrauen gegenüber Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen wohl nicht in dem Ausmass gegeben. Auf die ETH kommen harte Zeiten zu. Die Verschuldung des Bundes wird nicht ohne Konsequenzen sein, auch das Verhältnis zur EU nicht. Wir haben ein Gefäss, wo wir bei Bedarf einzelne Themen – nicht so intensiv wie jetzt bei rETHink – besprechen können. Deshalb ist dieser Prozess für mich so wichtig. Mein Traum ist es, dass ein Teil davon in Zukunft bleibt.
Schmid: Wir haben die Entwicklungsfähigkeit der ETH entwickelt. Das ist der grosse Nutzen von rETHink. Es wird immer wieder nötig sein, sich weiterzuentwickeln. Es macht Spass. Es ist aber auch harte Arbeit.
Mesot: Kollegen und Kolleginnen, die schon länger dabei sind, sagen mir, dass wir eine neue Art der Diskussionskultur etabliert haben.
Schmid: Genau darum bin ich zuversichtlich, dass sich wirklich etwas bewegt. Das ist spürbar und schön zu sehen.
In einem Jahr soll das Projekt abgeschlossen sein. Was muss bis dahin noch erreicht werden?
Mesot: In der Analysephase hat sich bestätigt, dass wir an der ETH sehr vieles richtig machen, deshalb sind wir so erfolgreich. Aber es kamen auch viele Verbesserungsvorschläge. Die Schulleitung hat eine Prioritätenliste definiert, aus der ein Aktionsplan hervorging. Jetzt sind wir daran, diesen zu implementieren. Bis in einem Jahr sollen die ersten Umsetzungsschritte abgeschlossen sein.
Dannath: Wir sind zurzeit in einer Phase des Übergangs, in der das Projekt vom Konzept in die Realisierung geht. Die Workstreams erarbeiten konkrete Vorschläge für die Umsetzung von Ideen, die dann in die Organisation übergeben werden. Diese Inputs werden von den zuständigen Einheiten diskutiert. Wenn sie für gut befunden werden, fliessen sie als neuer Prozess oder neue Struktur ein.
Wie wird dieser Übergangsprozess vom engeren rETHink-Kreis hinaus in die ganze ETH gestaltet?
Mesot: In der Analysephase haben bereits 600 ETH-Angehörige intensiv mitgearbeitet, Silos überwunden und einen neuen Spirit gelegt. Daneben waren aber noch einige Tausend beteiligt, via Sounding Boards oder Umfragen. An den ETH-weiten Kulturdiskussionen konnten und können sich sogar alle ETH-Angehörigen beteiligen. Wir haben laufend kommuniziert, über interne News-Artikel und Townhalls. Und wir werden einen grösseren Anlass organisieren, an dem wir möglichst alle Mitarbeitenden dabeihaben möchten. rETHink ist an der ETH bereits bekannt. Und auch ausserhalb der ETH stösst das Projekt auf Interesse. Ich bekomme Einladungen von Universitäten, das Projekt zu präsentieren, nicht nur aus der Schweiz.
Dennoch: Die 600 Beteiligten haben einen intensiven Prozess mitgemacht. Wer nicht von Anfang an dabei war, weiss nicht, was passiert ist. Reichen da News-Artikel oder sporadische Townhalls?
Schmid: Beim Implementieren entsteht sicher etwas Aufregung im System. Ganz viele Kieselsteine werden in die Organisation geworfen. Überall, wo sie aufschlagen, gibt es Kreise, und die Kreise werden sich irgendwann überlagern. Dadurch, dass die Diskussion in die Organisation geht, werden immer wieder mehr Personen miteinbezogen.
Mesot: Ja, die Diskussionen werden in den Schulleitungsbereichen und in den Departementen weitergeführt werden.
Dannath: Wir haben dieses Projekt mit einer immensen Impulsenergie in die Organisation getrieben. Hier haben Menschen, die forschen, lehren und arbeiten, on top noch einen gewaltigen Einsatz geleistet. Sie haben vorher ja nicht nichts gemacht. In so einem Projekt muss es Wellen geben. Wir haben eine hohe Impulswelle reingegeben. Es wird eine Zeitlang brauchen, bis sie sich entfaltet und ausbreitet und damit einerseits mehr Menschen an der ETH erfasst, dafür andererseits auch die Umsetzung auf mehr Schultern verteilt. Zudem können wir die ETH-Angehörigen nicht die ganze Zeit mit dem gleichen Aufwand beschäftigen.
Mesot: Der Trick ist: Man muss auf der Welle surfen.
Dannath: Aber man kann nicht immer oben sein. Es muss auch der Moment kommen, in dem wir ein bisschen ruhiger werden. Eine Sinuskurve hat ja auch nicht nur Hochpunkte
Damit sprechen Sie die Zeit nach rETHink an…
Dannath: Wenn rETHink beendet ist, wird es Dinge geben, die jetzt in der Institution so verankert sind, dass sie bleiben. Unabhängig davon, ob dann die aktuelle Schulleitung oder der Projektleiter noch da sind. Die Frage ist, wie man das langfristig verankert. Man hat immer die Struktur und die Kultur. Die Kultur haben wir jetzt auf den Weg gebracht.
Mesot: Wir werden immer wieder Impulse geben, aber mit weniger Intensität. Ich stelle mir vor, dass wir uns in der Folge jeweils eines Themas pro Jahr annehmen. Auch die Kulturdiskussion muss weitergehen, denn die Werte ändern sich.
Rethink
Mit dem von Präsident Joël Mesot initiierten Projekt rETHink sollen die Weichen für die organisatorische Weiterentwicklung der ETH Zürich gestellt werden. In sechs Teilprojekten wurde die heutige Organisation der ETH Zürich reflektiert und an den Herausforderungen gespiegelt, mit denen sich die Hochschule heute und morgen konfrontiert sieht. Die daraus abgeleiteten Erkenntnisse wurden zu einem Aktionsplan zusammengefasst. Die konkrete Umsetzung erfolgt in enger Zusammenarbeit mit den Professorinnen und Professoren, den Departementen, den Zentralen Organen und den Mitwirkungsgremien. Dank rETHink soll die ETH Zürich fit bleiben für die Zukunft. Ziel ist es, auch in zwanzig Jahren zu den erfolgreichsten Universitäten der Welt zu gehören.
Dieser Text ist in der Ausgabe 21/04 des ETH-Magazins Globe erschienen.