Eine Chance für Geflüchtete – und für die ETH
Seit letztem August bietet die ETH Zürich Integrationsvorlehren für geflüchtete Menschen an. Wie geht es den beiden ersten Teilnehmenden in dem Programm? Und wie geht es mit dem Pilotprojekt weiter?
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Vier Monate musste Raihan Dargai in einem bulgarischen Gefängnis ausharren. Neben dem Mangel an Essen habe ihm der herablassende Umgang der Wärter am meisten zu schaffen gemacht, erinnert sich der 22-Jährige heute. Verbrochen hat er nichts. Doch weil die Taliban in seiner Heimat immer mehr an Macht gewannen, wurde das Leben für den jungen Afghanen zunehmend gefährlich. Und so entschied er sich vor sechs Jahren zur Flucht, die ihn zwischenzeitlich unverschuldet ins Gefängnis führte. Eineinhalb Jahre hat es insgesamt gedauert, bis Raihan im Asylzentrum in St. Gallen ankam.
Mittlerweile wohnt er in Zürich und absolviert seit letztem August eine Integrationsvorlehre im Bereich Betriebsunterhalt an der ETH. «Am liebsten mag ich Montagearbeiten», sagt Raihan, während er den heruntergefallenen Wandverputz säuberlich am Boden zusammenkehrt. Gerade hat er einen Papiertuchhalter an der Wand der neuen Werkstatt im Octavo Gebäude befestigt. Raihan wirkt ruhig, sehr höflich und bedacht und kann sich für die kurze Zeit in der Schweiz erstaunlich gut auf Deutsch ausdrücken. Es ist ein sonniger Montagvormittag Mitte März. Am Morgen hat er bereits eine Tür im Obergeschoss repariert, eine Lampe im Treppenhaus ausgewechselt und einen Teppich von Kaffeeflecken befreit. An drei Tagen pro Woche arbeitet er in der Abteilung Facility Services, an zweien besucht er die Berufsschule.
Mit der Integrationsvorlehre, die seit 2018 in verschiedenen Kantonen angeboten wird, will der Bund die Erwerbsintegration von anerkannten Flüchtlingen und vorläufig Aufgenommenen fördern. Zwischen 800 und 1000 Geflüchtete werden jährlich durch das Vorbereitungsjahr gezielt und praxisorientiert auf eine Berufslehre in der Schweiz vorbereitet. Je nach Bedarf sowie Bewertung der Schule und der Berufsbildner können die Teilnehmenden anschliessend eine reguläre Lehre im gleichen Betrieb absolvieren oder sich bei einer anderen Organisation bewerben. Im letzten Jahr konnten 60 Prozent der Teilnehmenden im Anschluss eine richtige Lehre beginnen.
Fachkräfte gewinnen
An der ETH wurde das Programm von der Leiterin der Berufsbildung Fabienne Jaquet initiiert und letzten Sommer als Pilotprojekt lanciert. Zunächst wurden zwei Integrationsvorlehren im Bereich Betriebsunterhalt angeboten. «Damit wollen wir einen konkreten Beitrag zur Inklusion und Chancengleichheit leisten. Beides gehört zu den strategischen Zielen der ETH», erklärt Fabienne, die sich für eine möglichst schnelle Einführung des Programms eingesetzt hat.
Vorteile habe es für alle Beteiligten: «Wir erhöhen die Diversität in der Belegschaft, trainieren unsere interkulturellen Kompetenzen und gewinnen angehende Fachkräfte, die zum einen sehr motiviert sind und sich zum anderen stark mit der ETH identifizieren, weil sie sehr dankbar sind für diese Chance», sagt Fabienne. «Ohne dieses Programm hätten wir sie wahrscheinlich nicht anstellen können, da zum Beispiel ihre sprachlichen Fähigkeiten noch nicht ausreichend sind für eine normale Lehre.»
«Ab August wird die ETH als eine der ersten Organisationen in der Schweiz eine Integrationsvorlehre zur IT-Fachperson anbieten.»Fabienne Jaquet, Leiterin Berufsbildung
Sprache sei aber auch bei der Integrationsvorlehre ein Knackpunkt, sagt Islam Alija, der Berufsbildner von Raihan. Es könnten sich zwar nur Geflüchtete bewerben, die zuvor die sogenannte Potenzialabklärung beim Kanton erfolgreich absolviert und darin ein A2-Deutschniveau nachgewiesen hätten. Vor allem zu Beginn bräuchte es bei administrativen Aufgaben aber noch viel Unterstützung und die Erklärungen würden meist länger dauern. Deshalb wäre es von Vorteil, wenn der Fokus bei der Vorabklärung künftig noch mehr auf der Sprache liegen würde und die Lernenden auch während der Integrationsvorlehre zusätzlichen Deutschunterricht besuchen würden, findet Islam.
Drei neue Integrationslehrstellen
Das bestätigt auch Fuat Veselji, der Berufsbildner von Tuemfal Weldegabriel, dem zweiten Teilnehmenden an dem Pilotprogramm. Der 23-jährige Eritreer absolviert die Integrationsvorlehre auf dem Campus Hönggerberg. Vor sieben Jahren kam er in die Schweiz. Die ersten drei Jahre im Asylheim seien schlimm gewesen, erinnert er sich. Aber jetzt gehe es ihm gut. Welche Arbeiten er am liebsten mache, könne er gar nicht sagen. Er mag sie alle, erzählt Tuemfal, während er den grossen grauen Müllcontainer durch die unterirdischen Gänge zur Entsorgungsstelle schiebt. Reinigung und Entsorgung gehören ebenso zu seinen Aufgaben wie Reparaturen, Malerarbeiten und Sanitäraufgaben.
Damit die Integrationsvorlehre gelinge, sei es wichtig, dass das ganze Team mitziehe, sagt Fuat. Zunächst sei es für alle ein zusätzlicher Aufwand, denn viele kulturelle Gepflogenheiten wie etwa Entscheidungswege und Hierarchien müssten erst noch vermittelt werden. Am Ende profitiere aber auch das ganze Team. «Es macht wirklich Freude, zu sehen, wie Tuemfal sich entwickelt, und ich würde jederzeit wieder bei diesem Programm mitmachen», sagt er.
Ob es auch in diesem Sommer eine Integrationsvorlehre bei der Abteilung Facility Services geben wird, ist noch in Abklärung. «Fest steht aber bereits, dass die ETH ab August als eine der ersten Organisationen in der Schweiz eine Integrationsvorlehre zur IT-Fachperson bei den Informatikdiensten anbieten wird», freut sich Fabienne und ergänzt: «Der junge Iraner, der die Stelle bekommen hat, konnte schon an seinem Schnuppertag eigenständig programmieren.» Ab diesem Sommer wird es ausserdem eine Integrationsvorlehre zur Logistikfachperson bei den Campus Services geben, ab August 2023 eine im Bereich KV.
Ob das Programm aufgrund des Ukraine-Krieges nun noch schneller ausgeweitet werden kann, wird momentan geprüft. «Wir setzen uns dafür ein, möglichst rasch weitere Integrationslehrstellen zu schaffen», sagt Fabienne. Interessierte Abteilungen können sich jederzeit bei ihr melden.
Vorurteile abbauen
Insgesamt sind bisher alle Beteiligten überzeugt, dass das Programm einen wichtigen Beitrag zur Arbeitsintegration leistet. Ausserdem trage es auch dazu bei, Vorurteile abzubauen, findet Islam. «Wenn man von diesem Programm hört, hat man das Bild im Kopf, dass man den Geflüchteten jede Kleinigkeit erklären muss und es sehr lange dauert, bis sie mal integriert sind.» Doch genau das Gegenteil war dann der Fall: «Raihan war von Anfang an sowohl von seiner Reife als auch von der Selbstständigkeit und seinen handwerklichen Fähigkeiten her viel weiter als die regulären Lernenden, die ja meist noch Teenager sind.» Man müsse ihm eine Aufgabe nur einmal vormachen und er könne sie auf Anhieb. Und auch ins Team habe er sich unglaublich schnell integriert und werde von allen sehr geschätzt. «Zusätzliche Integrationsarbeit war nie nötig», so Islam.
Und auch ausserhalb der ETH unterscheidet Raihan wenig von gleichaltrigen Einheimischen. Er wohnt in einer WG mit zwei Schweizern und einer Französin, geht jeden Freitagabend ins Cricket-Training und trifft sich gerne mit Freunden.
An diesem Montagmittag hat er sich mit Tuemfal zum Mittagessen auf dem Hönggerberg verabredet. Die beiden haben sich noch vor der Integrationsvorlehre im Deutschkurs kennengelernt. Zielsicher führt ihn Tuemfal zu seiner Lieblingsmensa. Man merkt sofort, wie gut sich der 23-Jährige bereits auf dem Campus auskennt. «Wenn sie mich sehen, wissen sie schon, was ich nehme», sagt Tuemfal stolz, während die beiden im Rice Up anstehen.
«Sprache ist der Schlüssel»
Für Raihan steht bereits fest, dass er auch nach der Integrationsvorlehre an der ETH bleiben wird. Im August beginnt er die dreijährige Lehre mit eidgenössischem Fähigkeitszeugnis (EFZ) zum Fachmann Betriebsunterhalt. Ob auch Tuemfal der ETH erhalten bleibt, ist noch nicht klar. Die Rückmeldungen von der Schule und ETH-intern sind zwar allesamt positiv, doch für die EFZ-Lehre reichen seine Deutschkenntnisse noch nicht aus, und eine zweijährige Lehre mit Berufsattest (EBA) im Bereich Betriebsunterhalt bietet die ETH momentan nicht an.
Nochmals eine Sprache von Grund auf zu erlernen, falle ihm auch wirklich schwer, sagt Tuemfal. «In Eritrea war ich ein richtiger Mann. Hier muss ich nochmals von ganz vorne beginnen und fühle mich dann oft wieder wie ein kleines Kind», das sei nicht leicht. «Aber du musst Deutsch lernen!», wirft Raihan ein, «Sprache ist der Schlüssel, Bruder.»
Und während die beiden ihre Poulet-Bowls inmitten der anderen ETH-Angehörigen im Albert-Steiner-Garten essen, wird deutlich, dass sie auf den zweiten Blick dann doch noch etwas Entscheidendes von ihren Schweizer Arbeitskollegen unterscheidet: «Am schwierigsten ist, dass man die eigene Familie nicht sehen kann», sagen beide. Kontakt hätten sie nur alle paar Monate, und mit ihrer Aufenthaltsgenehmigung F dürften sie die Schweiz nicht verlassen.
Bereut haben sie ihre Flucht aber dennoch nie. «Die Sicherheit, die Freiheit und die Bildungsmöglichkeiten, die ich hier habe, hätte ich in Afghanistan nie gehabt», sagt Raihan. «In meiner Heimat gibt es den Beruf des Hausmeisters gar nicht. Doch nach diesem halben Jahr weiss ich ganz sicher: Für mich ist es mein Traumberuf.»
Dieser Beitrag stammt aus der aktuellen Ausgabe des ETH-Magazins «life».
Abteilungen, die eine Integrationsvorlehre einführen möchten, können sich jederzeit an wenden.