«Ich spreche zu euch als einer der eurigen»
Lebensthemen, Werk und persönliche Gegenstände von Thomas Mann kommen im Thomas-Mann-Archiv im ETH-Hauptgebäude wirkungsvoll zusammen. Heute Abend wird das namhafte Archiv feierlich wiedereröffnet.
- Vorlesen
- Anzahl der Kommentare
Die Dauerausstellung «Im Schreiben eingerichtet. Thomas Mann und sein Arbeitszimmer» ist vollständig neu konzipiert, die temporäre Ausstellung «Thomas Mann. Achtung Europa!» hochaktuell: Das Thomas-Mann-Archiv vermittelt bei seiner Wiedereröffnung Bewusstsein für die Geschichte und Sensibilität für die Gegenwart.
Drei Stationen des Lebens eines der berühmtesten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts stehen exemplarisch für sein Schaffen, sein politisches Engagement – und seine Verbindung zur ETH Zürich.
Zürich, im Juni 1955
Karl Schmid, der Rektor der ETH Zürich, verleiht Thomas Mann zum 80. Geburtstag einen Ehrendoktortitel der Naturwissenschaften und ehrt damit einen, «der für das hohe Gut der Geistesfreiheit lebenslänglich in Wort und Tat einstand», wie der Urkunde zu entnehmen ist. Spätestens jetzt ist die besondere Beziehung zwischen dem Schriftsteller und der ETH Zürich besiegelt. Zwei Monate später verstirbt Thomas Mann und die Erbengemeinschaft entscheidet, den Nachlass der Schweiz zu schenken – dem Land, dem sich Thomas Mann zu Lebzeiten besonders verbunden fühlt. Bereits ein Jahr nach dem Tod Manns unterzeichnet der Bundesrat die Schenkungsurkunde und die Hochschule gründet das Thomas-Mann-Archiv.
Nach Jahren im Bodmerhaus und einem rund sechsjährigen Provisorium auf dem Hönggerberg zieht das Thomas-Mann-Archiv nun in das Hauptgebäude der ETH Zürich. Professor Ulrich Weidmann, Vizepräsident für Infrastruktur der Hochschule: «Ich freue mich, dass der Nachlass Manns einen prominenten Platz im Erdgeschoss des Hauptgebäudes einnimmt. Mit der Graphischen Sammlung, dem Max-Frisch-Archiv und dem Thomas-Mann-Archiv sind drei unserer bedeutenden kulturellen Angebote unter einem Dach vereint und für Besucherinnen und Besucher frei zugänglich.»
Los Angeles, Januar 1943
«European Listeners!», lautet die Ansprache von Thomas Mann, als er sich anlässlich des zehnten Jahrestags der Machtergreifung Adolf Hitlers per Radio äussert. Es folgt ein bemerkenswertes Bekenntnis zu Europa als über die Nationalstaaten hinausgehende, den kriegsversehrten Kontinenten einigende Gemeinschaft:
«Ich spreche zu euch als einer der eurigen, als ein Deutscher, der sich stets als Europäer betrachtet hat, der eure Länder und eure Kulturen gekannt hat und zutiefst davon überzeugt war, daß die politischen und wirtschaftlichen Zustände Europas, diese Aufteilung in willkürlich umgrenzte Staaten und Souveränitäten, die das Unglück des Kontinents herbeigeführt hat, veraltet und überholt ist.» (Rückübersetzung des englischen Typoskripts, zit. nach: Thomas Mann, Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Bd. XIII, Frankfurt am Main 1974, S. 749)
Ab dem 1. März 2023 beleuchtet die temporäre Ausstellung «Thomas Mann. Achtung Europa!» dieses viel beachtete Engagement. Europa war für Thomas Mann ein Lebensthema: als kultureller Raum und als politisches Projekt. In einer Videoinstallation sprechen die Autor:innen Laura de Weck, Dana Grigorcea, Usama Al Shahmani und Michail Schischkin über die Bedeutung von Manns Überlegungen für das heutige Europa, das mit dem Ukrainekrieg erneut um seinen Zusammenhalt ringt.
München, Ende der 1920er-Jahre
Thomas Mann erwirbt einen Schreibtisch, der ihn nach der Machtergreifung Adolf Hitlers im Jahr 1933 ins Exil nach Küsnacht begleitet. Fünf Jahre später folgt das schwere Mahagoni-Möbel dem Schriftsteller in die Vereinigten Staaten und steht im Arbeitszimmer Manns in Princeton (New Jersey) und Pacific Palisades (Kalifornien). 1952 kehrt der Tisch in die Schweiz zurück, zuerst nach Erlenbach, dann nach Kilchberg. Das beinahe zwei Meter breite Möbel mit acht Schubladen und blumenähnlichen Schnitzmustern ist für Thomas Mann im Exil stets ein Symbol für Heimat und Vertrautheit.
Rund 67 Jahre später steht dieser Tisch im Zentrum der neuen Dauerausstellung mit dem Titel «Im Schreiben eingerichtet. Thomas Mann und sein Arbeitszimmer.» Dr. Tobias Amslinger, Leiter der Literaturarchive der ETH Zürich betont jedoch: «Wir verzichten bewusst auf eine historisch anmutende Inszenierung. Wir wollen einen zeitgemässen Blick auf das Vermächtnis Manns werfen.» Wie hat der Nobelpreisträger gearbeitet? Welche Gewohnheiten haben seinen Schreibprozess geprägt? Wie gestaltete sich sein Alltag und das Zusammenleben mit seiner Familie? Antworten auf diese Fragen erwarten die Besucher:innen des namhaften Archivs in den sorgfältig renovierten Räumlichkeiten. Zum erkenntnisreichen Blick zurück kommt – im Rahmen der temporären Ausstellung – die eindrückliche Verankerung in der Gegenwart dazu. «Die Literatur ist verantwortlich dafür, sich mit grossen Themen auseinanderzusetzen», sagt Usama Al Shahmani, der seinerseits den Irak 2002 verlassen musste und seither als Schriftsteller in der Schweiz lebt. Wie Thomas Mann diese Verantwortung wahrgenommen hat, lässt sich im neuen Thomas-Mann-Archiv erfahren. Eine Erkenntnis drängt sich auf: Auch 80 Jahre nach dem Appell an die «European Listeners!» haben die «grossen Themen» nicht an Dringlichkeit und Aktualität eingebüsst.
Thomas-Mann-Archiv
Öffnungszeiten: Montag bis Sonntag, 10 Uhr bis 17 Uhr
Ort: ETH-Hauptgebäude, Ausstellungsräume E43-45, Rämistrasse 101, 8092 Zürich
Kontakt: , 044 632 40 45
Website: tma.ethz.ch