Warum wir Stromhandel brauchen
Für Anthony Patt ist Energieautarkie weder sinnvoll noch realistisch. Um die Stromversorgung der Schweiz zu sichern, sollten wir auch in Zukunft einen Teil des Bedarfs durch Handel beziehen.
- Vorlesen
- Anzahl der Kommentare
Eigenverantwortung und Selbstversorgung spielen in der Schweizer Kultur eine wichtige Rolle.1 Diese Tugenden, gepaart mit Fleiss und Bescheidenheit, haben das Land mit erfolgreich gemacht. Und doch steht gerade die Idee der Selbstversorgung oft im Widerspruch zur Realität. Der Wohlstand der Schweiz beruht zu einem grossen Teil auf Handel und Vernetzung mit anderen Ländern.2
Dieser Gegensatz ist im Bereich der Energie besonders ausgeprägt. Die Schweiz importiert über 70 Prozent der Primärenergie in Form fossiler Brennstoffe und Uran. Rund ein Drittel des Energieverbrauchs entfällt auf Strom. Obwohl wir etwa so viel Strom erzeugen, wie wir verbrauchen, sind wir als Land in hohem Masse auf den Handel angewiesen, um Angebot und Nachfrage über das Jahr hinweg auszugleichen.
Kapazitäten effizient ausbalancieren
Der Handel ermöglicht es der Schweiz, Energiequellen zur Stromproduktion sowohl im Inland als auch im Ausland zu nutzen. Mit zunehmender Solar- und Windenergie wird diese geografische Diversifizierung immer wichtiger. In Europa gibt es im Sommer viel Sonne und im Winter viel Wind – es ist daher sinnvoll, diese beiden Energiequellen auszugleichen.3
Im Gegensatz zur Schweiz verfügen nordeuropäische Länder im Winter über genügend Strom aus Windkraft. Dänemark etwa exportiert Strom im Winter und importiert im Sommer. In der Schweiz und in Österreich dominieren Wasserkraft und Solarenergie mit Spitzen im Sommer. Sie exportieren im Sommer und importieren im Winter.
Handel kann die volatile Natur von Wind- und Solarenergie aber auch je für sich ausbalancieren. Bei Distanzen von 500 bis 1.000 km über unterschiedliche Regionen und Wettersysteme lassen sich die Schwankungen der einzelnen Energiequellen erheblich reduzieren.4 Das vermeidet Speicherverluste (bis zu 50 Prozent), senkt Kosten und Umweltverbrauch.5
Zuverlässigkeit steigern
Für die Schweiz stellt sich die Frage: Überwiegen diese Vorteile potenzielle Risiken des internationalen Stromhandels? Meine Antwort lautet ja. Denn die Risiken sind gering. Stockt der Handel, leiden die exportierenden Länder in der Regel stärker unter den Verlusten als die importierenden Länder unter der fehlenden Energie.6
Tatsächlich ist es äusserst selten, dass Exportländer den Handel unterbrechen. Eine wichtige Ausnahme ist, wenn das importierende Land stark von einem einzigen Exportland abhängig ist, wie dies bei Deutschland und russischem Erdgas der Fall war, und wenn ein konkreter Konflikt besteht.
Ansonsten sind die Anreize für Exporteure, zuverlässig zu liefern, bei Strom aus erneuerbaren Energien grösser als bei fossilen Brennstoffen: Wenn ein Land seine Öl- oder Gasexporte unterbricht, kann es die Brennstoffe einfach später exportieren, während ungenutzter Strom verloren geht. Frühere Studien fanden den auch, dass Handel mit erneuerbarem Strom im Vergleich zu Gasimporten aus wenigen Ländern sicherer wäre.
Eine verzerrte Wahrnehmung
Dass Stromhandel die Energiesicherheit der Schweiz erhöht, widerspricht allerdings der landläufigen Meinung. Vor einigen Jahren untersuchte mein Team Schweizer Ansichten über Energiesicherheit und -handel und stellte fest, dass die Meinungen stark auseinandergehen: Während Fachleute denken, dass Energiehandel die Sicherheit erhöht, glauben Energieverbraucherinnen und Politiker das Gegenteil.
«Die Schweiz sollte sich den Zugang zum europäischen Strommarkt sichern und den Stromhandel stärken.»Tony Patt
Die Meinung der Laien scheint dabei auf einem bekannten psychologischen Bias zu basieren: Die meisten Menschen schätzen sich selbst als überdurchschnittlich fähig ein.7 Deshalb fühlen wir uns sicherer, wenn wir die Kontrolle über eine Situation zu haben glauben: Die Fahrt im eigenen Auto fühlt sich sicherer an als in einem Flugzeug zu sitzen, auch wenn es genau umgekehrt ist.
Wir brauchen Integration – nicht Isolation
Das Argument, wir bräuchten Autarkie um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisen, ist psychologisch und kulturell begründet, entbehrt aber jeder faktischen Grundlage. Ein Verzicht auf Stromhandel zugunsten der Selbstversorgung wäre mit weniger Energiesicherheit, enormen Kosten und gravierenden Umweltfolgen verbunden.
Solide Studien legen nahe, dass die Schweiz – wie auch alle anderen Länder – ihre erneuerbare Stromproduktion steigern und temporäre oder regionale Über- und Unterkapazitäten durch Handel ausgleichen sollte. Deshalb bauen unsere europäischen Nachbarn derzeit den Stromhandel aus. Auch die Schweiz sollte sich einen ebenbürtigen Zugang zum europäischen Strommarkt sichern. Eine solche Integration macht unser Energiesystem sicherer, senkt die Umweltbelastung und stärkt unsere Wirtschaft.
1 Meier, I. (2011). The Swiss as Hobbits, Gnomes, and Trickster of Europe. Journal of Archetype and Culture 86: 39 – 54.
2 Wicht, L. (2020). A multi-sector analysis of Switzerland’s gains from trade. SNB Working Papers 20/2020.
3 Diaz, P., O. Van Vliet and A. Patt (2017). Do we need gas as a bridging fuel? A case study of the electricity system of Switzerland. Energies 10: 861.
4 Grams, C., R. Beerli, St. Pfenninger, I. Staffell and H. Wernli (2017). Balancing Europe’s wind-power output through spatial deployment informed by weather regimes. Nature Climate Change 7: 557 – 562; Pfenninger, S. et al., (2014). Potential for concentrating solar power to provide baseload and dispatchable power. Nature Climate Change 4(8), 689–692.
5 Tröndle, T., J. Lilliestam, S. Marelli and S. Pfenninger (2020). Trade-Offs between Geographic Scale, Cost, and Infrastructure Requirements for Fully Renewable Electricity in Europe. Joule 4: 1929 – 1948.
6 Lefèvre, N. (2010). Measuring the energy security implications of fossil fuel resource concentration. Energy Policy 38: 1635 – 1644.
7 Williams, E. and T. Gilovich (2008). Do people really believe they are above average? Journal of Experimental Social Psychology 44: 1121 – 1128.