«Wir machen zwei Nachbarn zum Exponat»

Karin Sander, ETH-Professorin für Architektur und Kunst, und Philip Ursprung, ETH-Professor für Architektur und Kunstgeschichte, kuratieren den Schweizer Pavillon an der diesjährigen Biennale in Venedig. Ihre Ausstellung «Neighbours» thematisiert die räumliche Nähe des Schweizer Pavillons zu seinem venezolanischen Nachbarn.

Die beiden ETH Professoren Philip Ursprung und Karin Sander sitzen auf den Sitzmöglichkeiten im Schweizer Pavillon.
Karin Sander und Philip Ursprung im Schweizer Pavillon an der Biennale Architettura in Venedig. (Bild: Samuele Cherubini)

ETH News: Was ist die Idee hinter «Neighbours»?
Karin Sander: Mir ist aufgefallen, dass die beiden Pavillons, der Schweizer und der Venezolanische nicht nur Nachbarn sind, sondern auch ein Ensemble bilden. Bruno Giacometti, der Architekt des Schweizer Pavillons, setzte seinen Entwurf zuerst um, und Carlo Scarpa, der Architekt des venezolanischen Pavillons, reagierte wenige Jahre später darauf. Wir rücken diese unmittelbare Nachbarschaft in den Fokus und machen sie zum Exponat.

Philip Ursprung: Wir wollten eine Ausstellung machen, die nicht Materialien und Ausstellungsstücke von irgendwo her nach Venedig schafft, sondern das thematisiert, was ohnehin schon da ist. Die Pavillons sind nicht einfach eine neutrale Kulisse. Wir stellen sie selbst, ihre Mentalität, ihre Geschichte und ihre zukünftigen Möglichkeiten in den Vordergrund.

Wie kann man sich das konkret vorstellen?
Ursprung: Eine Mauer trennt den Schweizer Pavillon von seinem venezolanischen Nachbarn. Diese Mauer haben wir zwar nicht grad eingerissen, aber zumindest geöffnet.

Sander: Entscheidend für unseren Beitrag ist die Entdeckung einer später hinzugefügten Mauer auf Venezolanischer Seite, die dort eigentlich nicht hingehört und die die Kontinuität der beiden Aussenbereiche unterbricht. Diese Kontinuität stellen wir wieder her, indem wir die Schweizer Mauer zum Nachbarn hin öffnen und die Venezolanische Mauer wie eine Skulptur freistellen.

Was heisst das für die Besuchenden?
Sander: Die Besuchenden können sich frei zwischen den Pavillons bewegen. Aus den Ziegeln, die wir durch die Öffnung der Mauer gewinnen, bauen wir ausserdem Sitzmauern. Und die Entwurfszeichnungen der beiden Grundrisse zeigen wir gross als begehbaren Teppich im Malereisaal und betonen damit die architektonischen Zusammenhänge.

Woran sieht man, dass sich die Gebäude aufeinander beziehen?
Ursprung: Nur ein Beispiel: Bevor der venezolanische Pavillon gebaut wurde, sah man vom Innenhof des Schweizer Pavillons das Meer. Dieser Blick wäre durch die Mauer, die den Innenhof des venezolanischen Pavillons umgibt, verstellt worden. Doch Scarpa sah ein kleines Fenster in der Mauer vor, damit man weiterhin auf die Lagune sieht. Ein offensichtliches Zusammenspiel der beiden Architekten.

Kannten sich Giacometti und Scarpa?
Ursprung: Oh ja! Giacometti hat sogar einmal gesagt, dass er nur zwei Architektenfreunde habe und einer davon Scarpa sei.

Was verbindet die beiden Pavillons, ausser dass sie nebeneinander stehen?
Sander: Die beiden Gebäude gehen fast eine Symbiose ein. Die beiden Gärten sind miteinander verbunden und die venezolanische Mauer schiebt sich vor die des Schweizer Pavillons. Das Dach des Säulengangs auf Schweizer Seite wird von Scarpa aufgegriffen und durch den venezolanischen Pavillon weitergeführt. Und viele Details mehr.  

Ursprung: Ungeachtet dieser Referenzen, hat Scarpa mit seinem Entwurf aber auch zahlreiche Kontraste und Spannungen erzeugt. Rein optisch sind die beiden Gebäude sehr unterschiedlich: Der Schweizer Pavillon besteht aus Ziegeln, der Venezolanische aus Sichtbeton, der Schweizer ist eher waagrecht ausgerichtet, der Venezolanische geht stärker in die Senkrechte.

Gruppenfoto im Pavillon.
Pro Helvetia Direktor Bischof, Philip Ursprung, Karin Sander, Bundesrat Berset, ETH-Präsident Mesot, Pro Helvetia Präsident Beer, Botschafterin Schmutz Kirgöz und Jérôme Benoit und Katharina Brandl von Pro Helvetia (v.l.n.r). (Bild: Samuele Cherubini)

Welche Wirkung wollen sie bei den Besucher:innen erzielen?
Ursprung: Wir wollen ihnen eine neue Perspektive mitgeben und sie dazu ermuntern, den Wettstreit der nationalen Pavillons auf der Biennale zu hinterfragen, denn es handelt sich dabei um einen Anachronismus.

Sander: Alle Pavillons sind ja mehr oder weniger Nachbarn, nur diese beiden sind ganz besonders eng miteinander verbunden. Wir wollen das Gemeinsame über das Trennende stellen. Die nationalen Pavillons sind Orte internationaler Begegnungen. Die Menschen kommen hier aus der ganzen Welt zusammen und politische und kulturelle Unterschiede treten für einen Moment in den Hintergrund.

Ist es eine Aufgabe von Architektur und Kunst nationale Grenzen oder Grenzziehungen zu hinterfragen?
Sander: Architektur hat immer auch eine politische Dimension.

Ursprung: Die Ausstellung soll nicht eine PR-Botschaft verbreiten. Wir sehen sie als Medium, mit dem wir fixe Ideen und Dinge hinterfragen und revidieren können.  

Venezuela ist ein autoritär geführter Staat. Inwiefern hat die politische Situation dort Ihre Arbeit beeinflusst?
Sander: Es war klar, dass wir aus politischen Gründen keine gemeinsame Ausstellung machen können. Man muss ausserdem wissen, dass im venezolanischen Pavillon schon länger keine Ausstellung mehr zu sehen war. In den letzten Jahren diente das Gebäude der Schweiz und Russland als Lagerraum. Wir haben die Behörden Venezuelas natürlich informiert, dass wir die Mauer auf der Schweizer Seite wegnehmen. Bis jetzt haben wir keine offizielle Rückmeldung erhalten.

Ursprung: Wir können das nicht beweisen, aber es sieht danach aus, dass die venezolanischen Behörden, nachdem sie von unserem Projekt erfahren haben, nun doch wieder an der Biennale teilnehmen wollen.

Aus politischer Sicht kann man sich auch fragen, ob das Öffnen der Mauer zum venezolanischen Pavillon hin nicht ein falsches Signal ist.
Ursprung: Wir sind nach Venezuela gereist, um uns selbst ein Bild zu machen. Die Situation dort ist verheerend. Kunst- und Kulturschaffende sind eingemauert und isoliert. Wir öffnen die Mauer nicht gegenüber dem Regime, sondern gegenüber Künstler:innen, Architekt:innen und Forschenden. Diesen Menschen geben wir in unserem Buch und auf diversen Podien auch eine Stimme.

Sander: Wir sehen die Ausstellung als eine Einladung. Die Kunst kann hier einen Dialog anstossen. Dabei hat sie womöglich mehr Spielraum als die Politik.

Die Schweizer Auftritte an der Architekturbiennale in Venedig

Die Biennale Architettura findet abwechselnd mit der Biennale Arte, alle zwei Jahre in Venedig statt. Die Schweiz hat ihren eigenen Pavillon in den «Giardini pubblici», dem Biennale-Park von Venedig. Seit 2012 ist die Schweizer Kulturstiftung externe Seite Pro Helvetia für den Schweizer Pavillon zuständig.

externe Seite Begleitprogramm

externe Seite Podcast Giardini Days: Play for Two Pavilions

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