Wasserstoff: mit Vorsicht zu behandeln
Für Anthony Patt dienen Europas ambitionierte Pläne für eine Wasserstoffwirtschaft eher der Öl- und Gasindustrie als den Konsument:innen und dem Klima. Die Schweiz solle sich gut überlegen, ob sie auf diesen Zug aufspringen will.
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Wird Wasserstoff richtig hergestellt und verantwortungsvoll verwendet, kann das reaktive Gas für die Energiewende eine wichtige Rolle spielen. Denn Wasserstoff kann Gebäude heizen, Fahrzeuge antreiben und in hochtemperierten Industrieprozessen direkt Erdgas und Kohle ersetzen.
Mit Wasserstoff und aus der Luft gewonnenem CO2 lassen sich auch synthetische Brenn- und Treibstoffe herstellen, die Heizöl, Benzin und Kerosin ersetzen oder als Rohstoff für CO2-neutrale Chemikalien und Kunststoffe dienen können.
Schliesslich wird Wasserstoff auch als Speicher für elektrische Energie verwendet. Batterien ist er vor allem dann überlegen, wenn grosse Strommengen über lange Zeiträume erhalten bleiben sollen. Doch so vielseitig und verlockend Wasserstoff erscheinen mag, er bringt auch verschiedene Herausforderungen mit sich.
Zum einen die Speicherung: Es braucht viel Energie, um Wasserstoff unter Druck zu setzen oder zu kühlen. Die kleinen und flüchtigen Moleküle neigen dazu, durch viele Materialien zu diffundieren. Neue Ansätze wie Nanomaterialien oder die Umwandlung von Wasserstoff in besser speicherbare Stoffe sind noch nicht ausgereift.1 Die Speicherkosten sind hoch.2
Herausfordernd ist auch die Produktion.3 Heute wird fast aller Wasserstoff aus Erdgas hergestellt, wodurch viel CO2 in die Atmosphäre gelangt. Diesen grauen Wasserstoff gilt es schrittweise auszumustern.
Blauer Wasserstoff entsteht ebenfalls aus Erdgas, wobei das CO2 aufgefangen und dauerhaft unterirdisch gespeichert wird. Leider entweichen dabei grosse Mengen an Erdgas, vor allem Methan, ein starkes Treibhausgas.
Die sauberste Variante ist grüner Wasserstoff und nutzt erneuerbare Energie, um Wasser in Wasserstoff und Sauerstoff zu spalten. Dies ist allerdings überaus ineffizient. Wird Wasserstoff letztlich zur Wärme- oder Stromerzeugung konsumiert, geht mehr als die Hälfte der aufgewendeten Energie verloren (siehe dazu diesen Blogbeitrag).
Neue Bedenken gegenüber Wasserstoff
Nun zeigt sich mit leckendem Wasserstoff ein weiteres Problem: Bis vor kurzem wurden Leckagen lediglich als wirtschaftlicher Verlust betrachtet – doch es steht weit mehr auf dem Spiel. Entwichener Wasserstoff reagiert in der Atmosphäre mit den knappen OH-Radikalen, die Methan abbauen. Wasserstofflecks verlängern somit die Lebensdauer von Methan in der Atmosphäre.
Die Konsequenzen für die Klimawirkung der Wasserstoffnutzung sind beachtlich.4 Szenarien, die nur grünen Wasserstoff mit niedrigen Leckageraten verwenden, bieten klare Klimavorteile. Sobald jedoch blauer Wasserstoff in den Mix gelangt und die Verlustraten steigen, verschwinden die Vorteile bisweilen ganz. Ein Szenario mit 30 Prozent blauem Wasserstoff und Leckageraten von mehr als 3 Prozent würde über einen Zeitraum von 20 Jahren die Atmosphäre stärker erwärmen als die fossilen Brennstoffe, die durch Wasserstoff ersetzt werden.5
Wie viel geht tatsächlich verloren?
Die Antwort ist, wir wissen es nicht, weil es nur sehr wenig Forschung dazu gibt. Man darf annehmen, dass Wasserstoff mehr Lecks aufweist als Erdgas, und Schätzungen für Erdgaslecks gehen von über 3 Prozent aus.6 Die bisher umfassendste Studie beziffert die Wasserstoffverluste auf 2,9 bis 5,6 Prozent.7
Es gibt mächtige Lobbygruppen, die politisch darauf drängen, Wasserstoff so breit wie möglich einzusetzen. Finanziert wird die politische Einflussnahme vor allem von der fossilen Energiewirtschaft, denn Produktion, Vertrieb und Verkauf von flüssigen und gasförmigen Energieträgern zählen zu ihrer Kernkompetenz.8 Viele Menschen sind, wie ich, äusserst besorgt über die Konsequenzen der ehrgeizigen Wasserstoffpläne überall in Europa, sowohl für die Verbraucher:innen als auch fürs Klima.
«Wasserstoff kann helfen, das Energiesystem zu sanieren, aber er birgt auch Risiken. Die Schweiz – wir alle – sollten vorsichtig mit Wasserstoff umgehen und seinen Einsatz dort vermeiden, wo es bessere Alternativen gibt.»Anthony Patt
Das heisst konkret: Überall dort, wo eine direkte Elektrifizierung möglich ist, zum Beispiel bei Wärmepumpen und batteriebetriebenen Elektroautos, werden die Stromkosten weitaus geringer sein als mit Wasserstoff. Unsere Energiemodelle zeigen zudem, dass eine durch Stromhandel mit Europa gewährleistete Versorgungssicherheit deutlich günstiger ausfällt als ein energieautarkes nationales Stromsystem mit Wasserstoffspeichern für den saisonalen Produktionsausgleich.9
Die Politik ist bereits stark gefordert, genügend erneuerbaren Strom bereitzustellen, um die fossilen Brennstoffe in den nächsten 20 Jahren auszumustern. Kommt ineffizienter grüner Wasserstoff dazu, wird dies noch schwieriger.10 Wenn der saubere Strom dann nicht ausreicht, um genügend grünen Wasserstoff zu produzieren, müssen wir zur Not wieder auf blauen Wasserstoff zurückgreifen – und das sollten wir tunlichst vermeiden.
Den Einsatz auf sinnvolle Anwendungen beschränken
Der Schweizer Regierung ist es hoch anzurechnen, dass sie sich beim Wasserstoff viel zurückhaltender zeigt als viele europäische Länder. Der Bundesrat gab kürzlich bekannt, dass er Wasserstoff nur dort einsetzen will, wo nicht direkt elektrifiziert werden kann.11 Ich hoffe, die Schweiz wird ihre Position behalten und dem Druck der Wasserstofflobby standhalten. Wir alle sollten vorsichtig mit Wasserstoff umgehen und ihn nur dort einsetzen, wo es keine besseren Alternativen gibt.
Dabei helfen könnten strengere Vorschriften, die den Einsatz von grauem oder blauem Wasserstoff künftig verhindern. Auch könnte sich die Politik stärker dafür einsetzen, dass die Schweiz weiterhin am europäischen Strommarkt teilnehmen kann. Schliesslich könnte unser Land Forschung zu Wasserstofflecks fördern, damit grüner Wasserstoff möglichst nicht zu Lasten des Klimas geht.
1 Rasul, M. G., M. . Hazrat, M. A. Sattar, M. I. Jahirul, and M. J. Shearer, 2022: The future of hydrogen: Challenges on production, storage and applications. Energy Convers. Manag., 272, 116326, externe Seite doi:10.1016/J.ENCONMAN.2022.116326.
2 Die Coalition for Green Energy & Storage (CEGS) – eine gemeinsame Initiative der ETH Zürich und der EPFL – will die Herausforderungen rund um die Speicherung und den Transport von Wasserstoff zusammen mit der Industrie angehen. Der Autor ist nicht nicht teil der Initiative.
3 Wasserstoff kommt auf der Erde nur selten rein als H2 vor. Es wird jedoch über grosse H2-Vorkommen in tiefen Gesteinsschichten spekuliert. Falls dies zutrifft und die Kosten für die Förderung nicht zu hoch wären, könnte das ein Wendepunkt sein. Siehe: Milkov AV, 2022: externe Seite Molecular hydrogen in surface and subsurface natural gases: Abundance, origins and ideas for deliberate exploration. Earth-Science Rev., 230, 104063.
4 Hauglustaine, D. et al., 2022: externe Seite Climate benefit of a future hydrogen economy. Commun. Earth Environ., 3(1), 295.
5 Das Hydrogen Council, ein Verband der Wasserstoffindustrie, schlägt die Nutzung von 30 % blauem Wasserstoff vor. Zum Vergleich: Die EU geht derzeit von 6 % blauem Wasserstoff aus. Bei einer Leckrate von 5 % geht bei 6 % blauem Wasserstoff ein Drittel des Klimanutzens über 20 Jahre verloren, bei einer Leckrate von 10 % sind es drei Viertel.
6 Zhang, Y. et al., 2020: externe Seite Quantifying methane emissions from the largest oil-producing basin in the United States from space. Sci. Adv., 6(17).
7 Hydrogen Leakage: externe Seite A potential Risk for the Hydrogen Economy. Columbia Sipa (July 2022)
8 Open Democracy: externe Seite Gas industry paid lobbyists to get MPs’ support for blue hydrogen
9 Tröndle, T., J. Lilliestam, S. Marelli and S. Pfenninger (2020). externe Seite Trade-Offs between Geographic Scale, Cost, and Infrastructure Requirements for Fully Renewable Electricity in Europe. Joule 4: 1929 – 1948..
10 externe Seite The role of hydrogen in a future, low-carbon, and secure European energy system. (Paris Agreement Compatible Scenarios for Energy Infrastructure, 2023)
11 Medienmitteilung des Bundesrats: externe Seite Bericht zur künftigen Rolle von Wasserstoff in der Schweiz.