Ein Lichthof für kühne Ideen
Einst schien die Idee «unrealisierbar», dass die ETH Zürich in Basel ein ganzes Departement für Biosysteme gründet. Heute hat das Departement sogar ein neues Zuhause, in dem Biologie, Informatik und Engineering zunehmend miteinander verschmelzen – und immer näher zur Medizin rücken.
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Wer das neue BSS-Gebäude betritt, wird als Erstes überrascht. Gleich hinter dem Empfang öffnet sich ein heller, weiter Innenhof, ein regelrechtes Atrium. Darüber spannt sich ein überglastes, durchsichtiges Dach, das eine unerwartete Lichtfülle im Innern erzeugt. Am Rand dieses Hofs schlängelt sich eine helixförmige Wendeltreppe zu den oberen Stockwerken hinauf. Zahlreiche Verbindungslinien deuten an, wie die Architektur den offenen Austausch zwischen den Forschungsgruppen unterstützen kann. Ein geschwungener Weg führt den Hof hinab zum einladenden Bistro. Studierende mit Rucksäcken schlendern durch den Lichthof. Forschende tauschen ein paar Worte aus und nehmen den Lift hinauf zu ihren Arbeitsplätzen.
«Schon in der Planung achteten wir darauf, das ganze Gebäude so zu konzipieren, dass seine Teile offen und durchlässig für wissenschaftliche Interaktionen sind.»Renato Paro
In der Mitte des Lichthofs stehen Renato Paro und Sven Panke. Paro ist sichtlich angetan: «Wenn ich durch das BSS-Gebäude gehe und mir die Büros, Labors und Plattformen anschaue, dann spüre ich, dass sich all die Arbeit gelohnt hat, die wir seit den Anfängen in den Aufbau unseres Departements investierten», anerkennt der mittlerweile emeritierte Molekularbiologe. Ab 2006 war er der erste Direktor des anfänglichen Zentrums für Biosystemwissenschaften und -engineering (C-BSSE). Wie kaum ein Zweiter hat er zur Etablierung des ETH-Departements Biosysteme (D-BSSE) in Basel beigetragen: «Für mich ist der Neubau der Höhepunkt einer wunderbaren Entwicklung.» Paro fährt fort: «Schon in der Planung achteten wir darauf, das ganze Gebäude so zu konzipieren, dass seine Teile offen und durchlässig für wissenschaftliche Interaktionen sind.» Die Professorinnen und Professoren hätten das Raumkonzept konsequent weitergedacht, ergänzt Sven Panke, der in diesem Jahr die Departementsleitung übernimmt: «Wir haben gemeinsam entschieden, dass wir die Professuren im neuen Gebäude nicht nach Themen gruppieren, sondern auf jedem Stockwerk durchmischen.»
Gelebte Interdisziplinarität
Thematisch unterteilt sich das Departement in drei Hauptrichtungen: experimentelle Biologie, computergestützte, theoretische Biologie sowie Bioengineering. Auf jeder Etage arbeiten nun Experimentalbiologinnen, Bioinformatiker und Bioingenieurinnen Tür an Tür. «Der Vorteil des D-BSSE war von Beginn an, dass wir die drei Forschungsbereiche unter einem Dach zusammenführten, um den Austausch zwischen den Gruppen zu erleichtern. Hier, im neuen Gebäude, können wir diese Durchmischung noch besser ausüben», unterstreicht Sven Panke. «Diese offen gelebte Interdisziplinarität ist attraktiv für Forschende aus der ganzen Welt.» Aus 42 Ländern kommen die Forschenden des D-BSSE. Sven Pankes eigenes Bioprozesslabor befindet sich zum Beispiel auf derselben Etage wie Niko Beerenwinkels Gruppe. Beide stehen für die spezielle Ausrichtung des Departements Biosysteme, das bezeichnenderweise die biowissenschaftliche Grundlagenforschung mit einer mathematisch-computerwissenschaftlichen Herangehensweise kombiniert und um eine konstruktive, technologische Komponente erweitert. Während Sven Panke auf miniaturisierte Bioverfahrenstechniken spezialisiert ist, mit denen sich verbesserte Varianten von Zellen auffinden oder synthetisch steuern lassen, verbindet Beerenwinkel Mathematik, Informatik und künstliche Intelligenz mit Biologie und Medizin. Seine computergestützten Methoden ermöglichen etwa die molekulare Erkennung und Beschreibung von Virenkrankheiten. Ihren Härtetest bestanden Beerenwinkels Modelle während der Coronapandemie. Zusammen mit Tanja Stadler, Professorin am D-BSSE für rechnergestützte Evolution und Präsidentin des Wissenschaftlichen Beratungsgremiums Covid-19, leistete er wichtige Beiträge, um jeweils neue Varianten des Coronavirus sowie deren Eigenschaften und Verbreitung zu erkennen.
«Diese Kombination von Bioengineering und Computermethoden geben wir auch unseren Studierenden weiter.»Sven Panke
Identitätsstiftend für die Forschenden des D-BSSE war die Systembiologie: Diese untersucht gesamtheitlich, wie Zellen, Organe und Organismen funktionieren und welche zeitlichen und biochemischen Prozesse sie am Leben halten. Um diese Funktionsweise zu verstehen, benutzen die Forschenden oft grosse Datensätze, die sie mithilfe von Hochdurchsatzinstrumenten wie DNA-Sequenzierungsmaschinen erzeugen, sowie mathematische Modelle und Computersimulationen. An die Systembiologie schliesst der zweite Schwerpunkt des D-BSSE an, die synthetische Biologie. Diese Forschung konstruiert Zellen, Organoide und Mikroorganismen mit neuen, oft medizinisch relevanten Eigenschaften, die so in der Natur nicht vorkommen.
Pionierleistungen in Basel
Konstruktiv geht auch das Bioengineering am D-BSSE vor. Diese Ansätze steuern Zellen und Organismen über die Erbsubstanz DNA. Daraus resultieren zum Beispiel Impfstoffe oder Antikörper für die synthetische Immunologie oder Zellimplantate, die korrigierend auf Stoffwechselstörungen einwirken, oder auch miniaturisierte Geräte wie die sogenannte Lab-on-Chip-Technologie. «Bioengineering sowie datenwissenschaftliche Rechenmethoden gehören zu den Pionierleistungen, die unser Departement in Basel etabliert hat», sagt Sven Panke, der seit 2009 dem D-BSSE angehört. «Diese Kombination von Bioengineering und Computermethoden geben wir auch unseren Studierenden weiter.»
Im Rückblick zeigt sich, wie weitsichtig die Überlegungen waren, die 2000 einsetzten, um ein biowissenschaftliches ETH-Forschungsinstitut in Basel aufzubauen. Auch die Entscheidung der ETH Zürich, das D-BSSE in Basel 2007 als eigenes Departement mit langfristig gesicherter Finanzierung einzurichten, zahlt sich bis heute aus. Es gab natürlich Zeiten, in denen die Entwicklung des D-BSSE nicht geradlinig verlief. So stellte die «Neue Zürcher Zeitung» 2003 fest, dass der Start der «Basler ETH-Filiale» stottere. Staunend kommentierte die Zeitung damals die Idee der ETH Zürich, in Basel ein ganzes Departement für Bioengineering oder Biomedical Engineering einzurichten: «Die Idee ist so grandios, dass sie fast unrealisierbar scheint.» Sie wurde realisiert.
Mit dem Umzug des Departements vom Rosental-Areal ins BSS-Gebäude auf den Life-Science-Campus Schällemätteli zeichnete sich der nächste Entwicklungssprung des D-BSSE ab. Nach Systembiologie und synthetischer Biologie gewinnt die Translation der Ergebnisse aus der Grundlagenforschung in die Medizin immer mehr an Bedeutung. Das hat mit dem Stand der Forschung zu tun. «Heute versteht die Systembiologie oft so gut, wie eine Zelle funktioniert, dass sie wichtige Prozesse selbst steuern kann. Dieses Wissen nutzt die synthetische Biologie, um eine Zelle so umzuprogrammieren, dass sie eine neue Aufgabe erfüllen kann», sagt Paro. «Solche neu programmierten Zellen lassen sich in Zukunft für therapeutische Zwecke in der Medizin verwenden.»
Translationale Forschung
Allerdings lassen sich Zellen nur dann bei Patient:innen einsetzen, wenn sie unter strengsten pharmakologischen Bedingungen hergestellt werden. Vor dem Umzug fehlte dem D-BSSE diese erforderliche Infrastruktur. Das BSS-Gebäude hingegen verfügt nun über eine eigene GMP-Facility (s. Box). «Wir können dank der neuen Infrastruktur die translationale Phase einleiten», bescheinigt Paro, «denn unter GMP-Bedingungen können wir die im Labor neu programmierten Zellen so weit verbessern und aufreinigen, dass man sie in klinischen Studien einsetzen darf.»
Infrastruktur für medizinische Anwendungen
Die neue GMP-Anlage (engl. Good Manufacturing Practice Facility), die die ETH Zürich mit der Universität Basel und dem Universitätsspital Basel betreibt, bietet den Forschenden eine streng kontrollierte und hochreine Arbeitsumgebung. In dieser können sie Gen-, Zell- und Gewebetherapieprodukte herstellen, die in klinischen Studien am Menschen verwendet werden dürfen.
Die Entwicklung zur translationalen Forschung hat auch mit dem neuen Standort auf dem Life-Science-Campus Schällemätteli zu tun: Die unmittelbaren Nachbarn sind das Universitätsspital Basel, das Universitäts-Kinderspital beider Basel sowie das Biozentrum der Universität Basel. Zudem planen dort auch das universitäre Departement Biomedizin und das Basel Research Centre for Child Health Neubauten in der Nachbarschaft. Die räumliche Nähe wird die Weitergabe biologischer Erkenntnisse in die Medizin sicherlich weiter begünstigen.
Zu den Personen
Sven Panke ist Professor für Bioverfahrenstechnik am Departement Biosysteme.
Renato Paro ist emeritierter Professor am Departement Biosysteme.
«Globe» Vernetzt in Basel
Dieser Text ist in der Ausgabe 24/01 des ETH-Magazins Globe erschienen.