Wie es der Biodiversität geht, ist keine Ansichtssache
Vor der Abstimmung über die Biodiversitätsinitiative werden grundsätzliche Einsichten zum Zustand der Artenvielfalt und der Lebensräume in der Schweiz kontrovers diskutiert. Loïc Pellissier hält mit dem wissenschaftlichen Konsens dagegen.
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Ich hatte erwartet, dass der Abstimmungskampf um die Biodiversitätsinitiative kein Spaziergang wird, und machte mich auf einen harten, aber konstruktiven Diskurs über Schutz und Nutzung unserer Natur gefasst. Stattdessen geraten meine Fachkolleg:Innen und ich in eine Grundsatzdebatte zur Lage der Biodiversität und klären gemeinsam die grundlegenden Fakten. Was ist passiert?
Im Juli hatte der Schweizer Bauernverband eine eigens beauftragte Studie publiziert, welche Bund, Kantone und die Schweizer Forschung zur Biodiversität infragestellt. Das Papier schreibt der Artenvielfalt in den letzten 20 Jahren eine positive Gesamtentwicklung zu und schliesst daraus medienwirksam, die Biodiversitätskrise werde herbeigeredet.1
Nein, der Biodiversität geht es nicht gut
Ich forsche selbst zu Biodiversität und widerspreche diesem Befund entschieden, weil er nicht den Tatsachen entspricht. Die Studie fokussiert einseitig auf positive Aspekte in einem kurzen Zeitraum und zeichnet ein beschönigtes Bild. Die Botschaft ist klar: Bei der Biodiversität sei alles im Butter – neue Massnahmen brauche es nicht.
Doch das Gegenteil der Fall. Ich beurteile die Situation der Biodiversität in der Schweiz als kritisch. Und damit bin ich nicht allein: Die Studie hat unter Fachleuten heftige Reaktionen ausgelöst.2 Die Akademie der Naturwissenschaften und das Forum Biodiversität, dessen Vizepräsident ich bin, widersprachen öffentlich.3 Mehr als 270 Forschende zeigen sich in einer klärenden Stellungnahme besorgt über den Zustand Biodiversität in der Schweiz.4, 5
Alle Indikatoren zeigen auf Rückzug
Die Reaktionen verdeutlichen den breiten wissenschaftlichen Konsens, der aus etlichen Studien und Datenanalysen verschiedener Expert:Innen in der ganzen Schweiz gewachsen ist: Demnach ist der Zustand der Biodiversität in der Schweiz tatsächlich besorgniserregend.
Trotz ihrer existenziellen Bedeutung nimmt die Biodiversität in der Schweiz ab. Das belegen direkte Indikatoren wie der Rote-Liste-Index gefährdeter Arten, die Artenvielfalt auf überwachten Parzellen sowie indirekte Indikatoren wie die Fläche von Schutzgebieten und die Abdeckung wertvoller Lebensräume.6
Die Biodiversität ist vor allem im letzten Jahrhundert stark zurückgegangen, und dieser Trend hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten fortgesetzt. Seit 1900 sind fast 8000 Quadratkilometer naturnaher Lebensräume wie Trockenwiesen, Auen und Sümpfe durch landwirtschaftliche Nutzung und Infrastrukturentwicklung verschwunden.
«Wir können den negativen Trend umkehren, indem wir mehr hochwertige Flächen wie Feuchtgebiete oder Trockenwiesen wiederherstellen und besser miteinander vernetzen und unterhalten.»Loïc Pellissier
Der Rückgang hochwertiger Lebensräume, Umweltverschmutzung und zunehmend der Klimawandel sind Hauptursachen für den Verlust der Biodiversität: Über ein Drittel der Arten und mehr als die Hälfte der Lebensraumtypen sind gefährdet.
Vor allem das Tiefland ist in einem schlechten Zustand, wobei in den intensiv genutzten Landwirtschaftsflächen besonders viele Pflanzen- und Insektenarten fehlen. Wildbienen etwa sind durch Pestizide, aber auch durch mangelnde Nistplätze und fehlende Futterpflanzen stark bedroht.
Der Rückgang der Insekten betrifft nicht nur Anzahl Arten, sondern auch die Grösse der Populationen und die Biomasse. Das wirkt sich auf die gesamte Nahrungskette aus und verringert die Populationen insektenfressender Vögel im Flachland.
Bisherige Massnahmen reichen nicht aus
Die Flächen zur Förderung der Biodiversität in der Agrarlandschaft haben seit 2011 zugenommen, aber die Qualität dieser Flächen ist nach wie vor zu schlecht, um eine signifikante Wirkung zu erzielen.
Trotz einiger Erfolge wurden die bisherigen Instrumente und Massnahmen nur teilweise umgesetzt, und reichen nachweislich nicht aus, um den Verlust an Lebensräumen, Artenvielfalt und genetischer Vielfalt zu stoppen.
Aus wissenschaftlicher Sicht ist klar: Wir können den negativen Trend umkehren, indem wir mehr hochwertige Flächen wie Feuchtgebiete oder Trockenwiesen wiederherstellen und besser miteinander vernetzen und unterhalten. Der Aufbau der benötigten ökologischen Infrastruktur stockt jedoch seit Jahren.
In der Schweiz sind nur 13,4 Prozent der Landesfläche dem Schutz der Biodiversität gewidmet, was unter dem 17-Prozent-Ziel liegt, das die Schweiz in ihrer Biodiversitätsstrategie für 2020 festgelegt hat.7
Biodiversität geht uns alle an
Wir sehen daher grossen Bedarf für rasches und entschiedenes Handeln, und zwar in sämtlichen Lebens- und Naturräumen. In der Verantwortung stehen alle Bereiche der Gesellschaft. Im internationalen Vergleich steht die Schweiz schlechter da als viele OECD-Länder und bildet das Schlusslicht Europas. Dennoch glauben die meisten Menschen hierzulande, dass es um die Biodiversität in der Schweiz gut bestellt ist.
Das hat wohl auch damit zu tun, dass das Thema in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen hat – für mich auch ein Zeichen, dass die aktive Kommunikation der Wissenschaft funktioniert.
Biodiversität bleibt aber ein abstrakter Begriff, und ihr Verlust findet für die meisten Menschen im Verborgenen statt. Das macht das Thema schwer fassbar. Die aktuelle Debatte deutet darauf hin, dass wir den Austausch mit der Gesellschaft weiter ausbauen sollten.
1 NZZ: externe Seite Biologe kritisiert Umweltbürokratie and externe Seite Wissenschafter relativieren den Pessimismus der Umweltverbände
2 Tagesanzeiger: externe Seite Bauern-Bericht zur Biodiversität erntet Widerspruch von Forschern
3 ScNat: externe Seite «Die Wissenschaft sieht politischen Handlungsbedarf bei der Biodiversität»
4 Stellungnahme der externe Seite Wissenschaft zu Biodiversität
6 Diese Informationen werden in Berichten des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) zusammengefasst. externe Seite Biodiversität: Indikatoren und externe Seite Biodiversität in der Schweiz
7 BAFU: externe Seite Strategie Biodiversität Schweiz und Aktionsplan