«Einen Chatbot kann man auch fragen, was man sich in der Vorlesung vielleicht nicht wagt»
Wo bewährt sich generative KI in der Lehre bereits und wo zeigen sich Grenzen? Dozieren bald Avatare? Jan Vermant, Prorektor für Curriculumsentwicklung, spricht im Interview über Trends an der ETH und eigene Erfahrungen.
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In Kürze
- Generative KI ist bereits gut darin, Unterrichtsmaterialen in alternativen Formen zu vermitteln und so den Zugang zu erleichtern. Sie hilft auch beim Programmieren.
- Vermant sieht Potenzial aber auch Entwicklungsbedarf für KI-Tutoren, die den Studierenden automatisiert personalisiertes Feedback geben.
- Der Umgang mit generativer KI soll systematisch in alle ETH-Lehrpläne integriert werden.
Jan Vermant, wie hat generative KI die Lehre seit dem Boom von ChatGPT verändert?
Als Dozierende stehen wir vor der Herausforderung, bei Prüfungen und schriftlichen Abgaben sicherzustellen, dass das Können unserer Studierenden im Vordergrund steht und nicht die Fähigkeiten eines Sprachmodells. Deshalb müssen wir sorgfältig darüber nachdenken, wie wir Prüfungsformate gestalten können, die die individuellen Kompetenzen und kreativen Ansätze der Studierenden erfassen.
Wie haben Sie selbst reagiert?
Ich prüfe jetzt mehr mündlich. Die Diskussionen mit den Studierenden und das Feedback der Lehrassistentinnen und -assistenten haben an Bedeutung gewonnen. Das macht das Prüfen für die Dozierenden intensiver und aufwendiger.
Wo sehen Sie schon Vorteile durch Sprachmodelle?
Beim Programmieren. Ein Beispiel: In einem meiner Kurse zu Fluiddynamik müssen die Studierenden jeweils eine kleine Anwendung programmieren. Früher haben sie dort oft Zeit verloren wegen Fehlern im Code. Dank Sprachmodellen machen sie diese nicht mehr und wir können uns schneller um den eigentlichen Inhalt des Kurses, die Physik, kümmern. Aber: Wir müssen jetzt auch Zeit dafür aufwenden, den Output von KI-Modellen kritisch zu besprechen.
Wie will die ETH ihre Studierenden fit machen für eine solche kritische Auseinandersetzung?
Der Einsatz generativer KI wird Teil der Kompetenzen sein, die wir lehren müssen, und es gibt hervorragende Beispiele dafür, wie dies bereits umgesetzt wird – auch ausserhalb der Informatik. Im Bauingenieurwesen zum Beispiel werden KI-Kompetenzen in einem Kurs zum digitalen Ingenieurwesen sehr strukturiert und schrittweise aufgebaut. Studierende arbeiten dort mit Sprachmodellen, um Programmcode besser zu verstehen, Code zu vervollständigen, Fehler zu identifizieren und den Code zu dokumentieren. In einem Biologie-Kurs kommt ein AI-Tutor zum Einsatz, der Unterrichtsmaterialien verwendet und die Studierenden mit gezielten Rückfragen unterstützt, ihr Wissen zu vertiefen. Es gibt aber noch mehr Kurse, die generative AI einsetzen und die wir über unseren Fonds für Lehrinnovationen fördern oder gefördert haben.
In welcher Rolle sehen Sie das grösste Potenzial von generativer KI für die Lehre?
Als Tutor. Indem wir generative KI nutzen, um den Studierenden automatisiert personalisiertes Feedback geben zu können. Im Rahmen des Projektes Ethel testet die ETH kursspezifische Chatbots, die beim Lernen helfen oder Übungsaufgaben korrigieren und sich dabei auf die jeweiligen Kursunterlagen stützen. Der Vorteil: Sie tun dies so oft man will, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Einem Chatbot kann man auch Fragen stellen, die man in einem grossen Auditorium eventuell nicht stellen würde. Langfristig sehe ich in dieser niederschwelligen Interaktion und dem unmittelbaren, individuellen Feedback Potenzial, wir stecken aber noch in den Anfängen.
Experiment mit KI-Videos
Ändert sich der Lerneffekt, wenn KI-generierte Lernvideos mit Avataren statt Videos mit echten Dozierenden verwendet werden? Diese Frage hat Torbjørn Netland, ETH-Professor für Produktions- und Operations-Management, untersucht und die Ergebnisse in einem externe Seite Fachmagazin publiziert. In dem Online-Experiment liess er 447 Teilnehmende normale und KI-Videos ansehen, eine Prüfung ablegen und einen Fragebogen ausfüllen. Das Resultat: Videos von Menschen werden leicht bevorzugt, aber die Lernergebnisse sind in beiden Fällen gleich gut.
Vor kurzem hat ETH-Professor Torbjørn Netland für ein Forschungsprojekt mit KI-Avataren in Lernvideos experimentiert. Kann man Dozierende bald durch KI-Avatare ersetzen?
Wenn Sie so fragen: Nein. In einer akademischen Ausbildung braucht es die Interaktion mit Menschen. Erst wenn Wissen in Kontext gestellt und immer weiter differenziert wird, erreichen wir das Level, für das die ETH bekannt ist. Netland will aber gar nicht die Dozierenden ersetzen, schon gar nicht im Hörsaal. Er hat untersucht, ob KI-generierte Videos im Vergleich zu anderen Videos Vor- oder Nachteile bringen (siehe Box). Dass sich die reine Wissensvermittlung mit generativer KI neugestalten lässt, ist klar. Ich bin aber überzeugt, dass die Sprachmodelle immer ein Hilfsmittel bleiben und den Austausch zwischen Menschen nicht ersetzen werden. Unser Ziel ist es ja, die Studierenden so zu fordern, dass sie immer noch einen Schritt weiterdenken und in die Tiefe gehen. Das ist für ein Sprachmodell schwierig.
Wie verändert generative KI die Lehrpläne?
Es braucht darin natürlich Platz für Methoden und Hintergründe: Wie schreibe ich Prompts in der Wissenschaft? Welche Fehler machen die Modelle? Wo geben sie ein verzerrtes Bild ab? Grundsätzlich glaube ich, dass wir künftig wohl mehr Zeit benötigen, in der die Dozierenden mit den Studierenden kritisches Denken üben und fördern. Zeit, die die Dozierenden vielleicht dank KI bei der reinen Wissensvermittlung gewinnen.
Wo sehen Sie die Grenzen der Sprachmodelle in der Lehre?
Ich beobachte in meinem Fachgebiet, dass das, was die Mehrheit macht, nicht dem entspricht, was die Besten machen. Die Sprachmodelle berücksichtigen aber oft nicht das Wissen dieser Pioniere, sondern einen «Mittelwert», wenn man das so nennen will. Ich habe Sprachmodelle nach meinem Fachgebiet befragt – und die Antworten waren noch nicht so intelligent.
Wo sehen Sie die grössten Herausforderungen für die Zukunft?
Wir sind im Moment abhängig von den grossen Playern, obwohl wir Kompetenzen haben, die ihnen fehlen. Ich frage mich, wie wir unsere Stärken nutzen und damit selber Angebote für die Lehre aufbauen können.
Zur Person
Jan Vermant ist Prorektor Curriculumsentwicklung an der ETH Zürich. Er begleitet Studiengänge bei der Weiterentwicklung der Lehrpläne und bei Innovationsprozessen. Als Professor für weiche Materialien konzentriert sich seine Forschung auf das Verhalten von Grenzflächen zwischen Flüssigkeiten, auf Suspensionen sowie die Entwicklung experimenteller Methoden und Anwendungen von weicher Materie in der Materialwissenschaft.