Fokus: Essen statt Pillen
Cholesterinsenkende Margarinen, Joghurts mit Bakterienkulturen zur Stärkung der Abwehrkräfte, herzfreundliche Backwaren – lässt sich Gesundheit im Supermarkt kaufen? Ja, verspricht die Werbung schon heute. Vielleicht, sagen ETH-Forschende und nehmen nicht nur Nahrungsmittel, sondern auch unser Verdauungssystem genauestens unter die Lupe.
Zu viel Fett, zu viel Zucker bei zu wenig Bewegung: Essen heute – so scheint es zumindest in den entwickelten Ländern – macht krank. Übergewicht, Diabetes, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebsleiden nehmen zu und verursachen Gesundheitskosten in Milliardenhöhe. Demgegenüber steht ein Traum: Lebensmittel, die nicht nur gut schmecken und gut bekommen, sondern die sogar Krankheiten verhindern oder heilen helfen können. Essen als Medizin: Glaubt man den Versprechungen der Werbung und den Produktdeklarationen auf Joghurts, Margarinen und Co., so ist dieser Traum bereits wahr geworden. In den Regalen der Supermärkte stehen mehr und mehr Lebensmittel, denen gesundheitsfördernde Substanzen zugesetzt wurden. Functional Food verspricht auch ein Milliardengeschäft zu werden.
Gesundheit essen – neu ist die Idee nicht. In der Schweiz wurde sie schon vor über 100 Jahren, wenn nicht erfunden, so doch nachhaltig eingeführt. Im Jahr 1900 entwickelte der Schweizer Arzt Maximilian Bircher-Benner eine Mahlzeit, die aus wenig anderem als ungekochten Haferflocken, geriebenen Äpfeln und Nüssen bestand – das Birchermüesli. Für viele seiner wohlstandsgeschädigten Luxuspatienten, die in seine Klinik am Zürichberg pilgerten, war diese Speise zunächst ein echter Schock – für die Bekehrten wurde das Birchermüesli fast eine Religion.
Hafer als Superfood
Dass diese Rohkostdiät nicht jedermanns Sache ist, versteht Laura Nyström, Professorin am Institut für Lebensmittelwissenschaft, Ernährung und Gesundheit der ETH Zürich. Dennoch hat es ihr ein Element des Bircher-Müeslis besonders angetan: «Wir forschen intensiv an einem der Inhaltsstoffe von Hafer», erklärt die Wissenschaftlerin. Der Stoff heisst Beta-Glucan und gilt als eine der Pflanzenfasern mit den vielversprechendsten positiven Auswirkungen auf die Gesundheit. Beta-Glucan hilft zum Beispiel, so die Forschung, den Cholesterinspiegel zu senken – die Ursache für viele Herzkrankheiten. Es verzögert den Anstieg des Blutzuckerspiegels nach einer Mahlzeit und lässt ihn gleichzeitig langsamer absinken – gute Nachrichten für Diabetes-gefährdete und alle, die mit Heisshungerattacken und Übergewicht zu kämpfen haben. Und nicht zuletzt reguliert die Pflanzenfaser als Ballaststoff die Verdauung und könnte so das Risiko, an Darmkrebs zu erkranken, senken. Kurz: «Beta-Glucan ist wirklich ein Supernahrungsbestandteil in Bezug auf die Gesundheitsförderung», ist Nyström überzeugt. Und Hafer enthält, im Vergleich zu anderen möglichen pflanzlichen Lieferanten, besonders viel dieses Superstoffs, nämlich etwa fünf- bis achtmal so viel wie beispielsweise Roggen.
Das tägliche Birchermüesli ist demnach keine schlechte Idee, meint die Forscherin. Nur, damit die für viele Wirkungen notwendige Menge Beta-Glucan aufgenommen wird, müsste man extrem viel Birchermüesli essen. Vieles hängt zudem davon ab, in welcher Verarbeitungs- und Zubereitungsform und in welchen Kombinationen das Beta-Glucan aufgenommen wird. Verarbeitungsprozesse wie das Mahlen, Backen, Kochen haben einen grossen Einfluss auf die Wirksamkeit, «oft einen negativen», sagt Nyström. «Wann Beta-Glucan wie wirkt, muss noch viel genauer erforscht werden.»
Man weiss inzwischen, dass Beta-Glucan löslich sein muss und eine bestimmte molekulare Masse aufweisen sollte, um physiologisch aktiv zu sein. In Verbindung mit Wasser wird Beta-Glucan viskos. Genau diese Eigenschaft sorgt dafür, dass es die Poren der Darmwände nicht passieren kann. Die Poren werden dadurch quasi blockiert und es kann somit weniger Cholesterin über den Darm aufgenommen werden. Beta-Glucan verliert jedoch seine cholesterinsenkenden Eigenschaften und seine Viskosität, wenn es mit Enzymen behandelt wird.
Von Oxidationsprozessen, die, wie Nyström und ihre Kollegen feststellten, bei der Nahrungsmittelverarbeitung auftreten, befürchtete man bisher vor allem negative Auswirkungen. Andere Forschungen lassen jedoch vermuten, dass bestimmte Formen von Oxidation die gesundheitsfördernden Fähigkeiten von Beta-Glucan auch erweitern können. «Damit eröffnete sich ein ganz neues Forschungsfeld», sagt die Wissenschaftlerin.
Es lohnt sich also, die scheinbar so simple Pflanzenfaser genauer anzuschauen. Und genau das tun Nyström und ihr Team. «Natürlich kochen wir keinen Haferbrei im Labor», erklärt Nyström. Vielmehr wird unter kontrollierten Bedingungen im Reagenzglas gemessen. Mittels Flüssigchromatografie und Massenspektrometrie versuchen die Wissenschaftler jenen kleinsten Veränderungen auf molekularer Ebene auf die Spur zu kommen, die für bestimmte Wirkungen verantwortlich sind.
Das gleicht der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Das Beta-Glucan-Molekül besteht oft aus mehr als 10 000 Zuckereinheiten – eine winzige Veränderung hier oder dort kann vieles bewirken. «Und genau diese Veränderungen versuchen wir dingfest zu machen», sagt Nyström. «Dank hochsensitiver Methoden können wir heute die eine Veränderung, die etwas bewirkt, erkennen».
Die Schweiz war nicht nur Pionierin in Sachen Bircher-Müesli, auch in Bezug auf die Anerkennung von Beta-Glucan als gesundheitsfördernder Zusatzstoff durch die europäische Lebensmittelbehörde EFSA waren Schweizer, so zum Beispiel das in Zug lokalisierte Unternehmen Crea-Nutrition (heute zu DSM gehörend), treibende Kraft. Beta-Glucan ist inzwischen vom Bundesamt für Gesundheit und von der EFSA anerkannt. In Schweizer Supermärkten findet man seit 2012 entsprechende Produkte: Frühstückscerealien und verschiedene Backwaren werden mit Beta-Glucan angereichert. Produkte, nicht notwendigerweise für jedermann, aber hilfreich für diejenigen, die zur Risikogruppe potenzieller Herz- oder Diabetespatienten gehören oder bei denen bereits entsprechende Krankheiten diagnostiziert sind, findet Nyström. Gesundheitsbewusst essen ist für die gebürtige Finnin eine Selbstverständlichkeit, und Functional Food könne dabei eine wichtige Rolle spielen.
Gesund mit Bakterien
Schon wesentlich länger, nämlich seit mehr als 15 Jahren, finden Konsumentinnen und Konsumenten eine andere Form von Functional Food, so genannte probiotische Lebensmittel, in den Regalen. Am bekanntesten sind Joghurts und Joghurtdrinks, die mit spezifischen Bakterienkulturen angereichert werden, die sich positiv auf die Gesundheit aus¬wirken können. Verdauungsfördernde Wirkung und eine Stärkung des Immunsysstems sind einige der damit verbundenen Versprechen.
Doch was unterscheidet die Produkte eigentlich von einem normalen Joghurt, der schliesslich auch durch Bakterienkultur entsteht? «Probiotisch sind die Produkte dann, wenn die Bakterienzellen nicht nur die Joghurtproduktion und -lagerung überleben, sondern auch Magensäfte und Verdauungsprozesse im Darm lebend überstehen und dort ihre Wirkung entfalten», erläutert Professor Christophe Lacroix, Spezialist für funktionelle Mikroorganismen. Seine Gruppe für Lebensmittel-Biotechnologie untersucht Bakterien und Pilze aus Lebensmittelökosystemen, um ihre Rolle in Nahrungsmitteln und mögliche Effekte im Darm von Mensch und Tier zu erforschen.
Lacroix sieht seinen Arbeitsschwerpunkt nicht in erster Linie in der Herstellung von Functional Food. «Ein Teil unserer Arbeit besteht darin, funktionelle Mikroorganismen, welche die Qualität, Sicherheit und Gesundheit hochwertiger Nahrungsmittel verbessern, zu finden und zu charakterisieren.» Viele seiner Mikroorganismen helfen primär, Lebensmittel haltbarer und sicherer zu machen. Zum Beispiel werden Kulturen von Laktobazillen und Propionibakterien dazu verwendet, um die Schimmelbildung in Fruchtjoghurts oder die Ausbreitung von anderen qualitäts- und gesundheitsschädlichen Mikroorganismen in Käse oder Wurst zu vermindern. Das freut nicht nur Ladenbesitzer und Konsumenten hier bei uns. Lacroix und seine Mitarbeiter untersuchen auch die mikrobielle Zusammensetzung von traditionellen fermentierten afrikanischen Lebensmitteln, um sie haltbarer und sicherer zu machen. Denn auch in Afrika ist der Weg vom Acker auf den Herd länger geworden.
Komplexes Universum Darm
Probiotische Bakterienkulturen können auch, davon ist Lacroix überzeugt, einen direkten Beitrag zur Gesundheit leisten. Das aber nur, wenn sie sehr gezielt eingesetzt werden, erläutert der Forscher. Und das sei ziemlich kompliziert. Schliesslich ist der Darm ein Universum mit Billionen von Mikroorganismen, die in engem Kontakt mit den Zellen des Darmepithels stehen und perfekt zusammenarbeiten müssen, wenn der Mensch gesund sein soll. «Diesem Universum neue Elemente hinzuzufügen, kann ungeahnte Folgen haben.»
Lacroix hat beispielsweise gemeinsam mit der ETH-Forschungsgruppe Human Nutrition von Michael Zimmermann nach Wegen gesucht, die Eisenversorgung von Frauen und Kindern in Afrika, die häufig unter Eisenmangel leiden, sicherer zu machen. Denn Studien zeigten, dass sich für Menschen in Gegenden, in denen Durchfallerreger häufig vorkommen, das Risiko an Durchfall zu erkranken noch erhöhte, wenn ihnen Eisensupplemente verabreicht wurden. Lacroix und die Human-Nutrition-Gruppe waren die ersten, die sich genauer anschauten, wie sich Eisen auf die Mikroorganismen im Darm von Kindern in Afrika in Regionen mit unterschiedlichen Hygienestandards auswirkt.
Für weitere Versuche ahmten sie die Vorgänge im Darm systematisch im Reagenzglas nach, in so genannten In-vitro-Darmfermentationsmodellen, die sie mit Zellmodellen kombinierten. Studien an Ratten folgten, um den Effekt von Eisen auf die Zusammensetzung und die metabolische Aktivität der Darmflora genauer zu untersuchen und um herauszufinden, wie der Darm darauf reagiert. Die Forscher verglichen die Resultate mit den Daten von Humanstudien, die in Zusammenarbeit mit der Human-Nutrition-Gruppe in Côte d’Ivoire, Kenia und Südafrika durchgeführt wurden. So konnten sie zeigen, dass Eisen auch ein bedeutender Faktor für die Produktion von Butyrat in der Darmflora ist, ein wichtiger Nährstoff für Darmzellen mit vielen zellregulierenden Funktionen.
Jetzt entwickeln die Forscher zusammen mit der Industrie ein Konzept, wie Babys in Afrika mit Eisen versorgt werden könnten, ohne dass Krankheitserreger gefördert werden. In einer kombinierten Strategie soll einerseits die notwendige Eisenversorgung sichergestellt werden, andererseits sollen «gute» Mikroorganismen, spezielle Bifidusbakterien, im Darm gefördert werden, die die Krankheitserreger in Schach halten und die Darmflora stabilisieren können. «Dies ist, wenn Sie so wollen, eine besondere Form von Functional Food», sagt Lacroix, «aber gezielt entwickelt für eine genau spezifizierte Gruppe mit genau definierten Wirkungen.» Und es ist nicht als Nahrungsmittel oder Teil von künstlicher Babymilch gedacht, sondern als Supplement für die Förderung der Darmgesundheit während der Behandlung mit Eisenpräparaten.
«Ausgewählte probiotische Bakterienstämme könnten auch für die Vorbeugung oder Behandlung anderer Erkrankungen nützlich sein», sagt Lacroix. So erforscht seine Forschungsgruppe einen Bakterienstamm, der das Potenzial hat, Infektionen mit Clostridium difficile, einem Durchfallerreger, der vor allem für ältere Personen gefährlich ist, zu verhindern oder abzuschwächen. Und sie entwickelt eine Methode, um Salmonelleninfektionen bei Tieren durch die Fütterung von speziellen Bakterien anstelle von Antibiotika zu verhindern.
In solchen Anwendungen sieht der Forscher grosses Potenzial. Im Krankheitsfall würde er nicht zögern, die Therapie gezielt mit spezifischen probiotischen Bakterienstämmen zu unterstützen, wenn die Wirkungsmechanismen wissenschaftlich untersucht sind. Die Vorstellung, Nahrung nur noch als aus Funktionalitäten zusammengesetzte Mixtur zu sehen, ist ihm jedoch ein Graus. «Nahrung ist auch wesentlich Genuss!» Spezielle Nahrungsmittel für Menschen mit bestimmten Defiziten seien notwendig, beispielsweise für Menschen mit Erkrankungen des Darms. Er persönlich, sagt Lacroix, brauche wie die meisten gesunden Normalbürger mit einem gesundheitsfördernden Lebensstil in unserer entwickelten Welt Functional Food eigentlich nicht. «Wir haben alle Möglichkeiten, uns frisch, gesund, abwechslungsreich und mit Genuss zu ernähren, und ich hoffe, dass dies auch in Zukunft so sein wird.»
Functional Food
Funktionelle Lebensmittel – im Fachjargon Functional Food – sind Lebensmittel, denen zusätzliche Inhaltsstoffe beigefügt wurden, die die Gesundheit fördern sollen. Beispiele sind probiotische Joghurts, Margarinen mit Pflanzensterinen und Produkte, die mit Omega-3-Fettsäuren angereichert werden. Neueren Datums sind Produkte mit Beta-Glucan aus Hafer und Gerste.
Seit einigen Jahren überprüft die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA diese Lebensmittel. Gesundheitsbezogene Werbeversprechen dürfen nur noch solche Produkte verwenden, die von ihr anerkannt werden. Den strengen Anforderungen entsprechen rund 80 Prozent der Nahrungsprodukte, die einen Health Claim beantragen, nicht. Dies betraf unter anderem die probiotischen Lebensmittel. Pflanzensterine und Beta-Glucan dagegen sind derzeit sowohl von der EFSA wie auch vom Schweizer Bundesamt für Gesundheit BAG als gesundheitsfördernd anerkannt.