Der WM-Gastgeber ist auch ein Forschungspartner

Holzbau, informelle Architektur und Biotreibstoffe – Forschungspartnerschaften, Gastprofessuren, Start-ups und Studentenprojekte verbinden die ETH Zürich und WM-Gastgeber Brasilien.

Vergrösserte Ansicht: Musikfabrik
Die «Grotão – Fábrica de Música», die «Musikfabrik» der beiden ETH-Architekten Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner will Menschen in einer Favela São Paulos neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen. (Bild: Alfredo Brillembourg, Hubert Klumpner)

Gilles Maag ist ein wenig aufgeregt. In einigen Tagen wird er in São Paulo sein, seinem neuen Zuhause für mindestens zwei Jahre. Dort wird der CEO des ETH-Start-ups «Sunbiotec» als Postdoc im Bereich Solarenergie forschen. Sobald er sein Visum hat, geht’s los. «Wenn alles gut läuft, bin ich noch vor der WM dort», sagt er vergnügt.

«Sunbiotec» ging 2012 aus dem Labor von Professor Aldo Steinfeld vom Institut für Energietechnik hervor. Basierend auf Steinfelds Forschung hat Maag einen ersten marktreifen Solarreaktor zur Produktion von Biotreibstoffen aus organischen Landwirtschaftsabfällen entwickelt. Brasilien war für ihn als zukünftiger Markt von Beginn weg interessant. Einerseits weil der solarbetriebene Reaktor viel Sonnenstrahlung benötigt. Andererseits fallen durch die grossindustrielle Landwirtschaft Massen von organischen Abfällen an. Hinzu kommt, dass Biotreibstoffe in Brasilien mittlerweile etabliert sind.

Maag ging deshalb eine Kooperation mit der «Universidade de São Paulo» ein, wo ihm in den vergangenen Monaten bei Kurzbesuchen auch ein Labor zur Verfügung stand. Derzeit läuft ein gemeinsamer Antrag für den Bau einer Pilotanlage mit lokalen Industriepartnern. Sie soll in erster Linie zur Demonstration für zukünftige Investoren dienen. «Power Point-Präsentationen alleine reichen auf die Dauer nicht aus», erklärt Maag. «Unsere potentiellen Partner und Investoren müssen nun so schnell wie möglich etwas zum Anfassen haben.» Bis 2020 will er in Brasilien den ersten kommerziellen Grossreaktor in Betrieb nehmen.

Forschung in der «City of God»

Gilles Maag Engagement in Brasilien ist bei weitem kein Einzelfall mehr. 2009 haben die Schweiz und Brasilien ein bilaterales Abkommen über eine vertiefte Zusammenarbeit in Wissenschaft und Technologie unterzeichnet. Heute unterhält die ETH Zürich insgesamt 45 Forschungskooperationen mit brasilianischen Partnern. Das Departement Architektur zum Beispiel ist schon seit Jahren in Rio de Janeiro und São Paulo aktiv. Im Rahmen des Masterstudiengangs in «Urban Design» forschen Studierende seit 2011 in brasilianischen Favelas. In mehreren Forschungsaufenthalten beobachteten und dokumentierten sie die Stadtentwicklung und Lebensbedingungen. 2013 erschien das Buch «Cidade de Deus».

Das gleichnamige Viertel in Rio de Janeiro wurde in den 60er-Jahren von der Regierung gegen die grassierende Wohnungsnot angelegt. Innert kurzer Zeit wurden tausende standardisierte und weitgehend gleichförmige Bauten angelegt. Anschliessend war «Cidade de Deus» während Jahren der Schauplatz von kriegsähnlichen Zuständen zwischen Drogenbanden und der Polizei. In den vergangenen fünf Jahren hat das Viertel laut Marc Angélil, Professor für Architektur und Entwurf am ETH-Institut für Städtebau, jedoch stark an Lebensqualität gewonnen. Forscher und Studierende erforschten und katalogisierten, wie die Bewohner ihr Viertel durch Kreativität und informelles Bauen zu einem persönlichen und an die lokalen Bedürfnisse angepasstes Habitat umgestalten.

In der kürzlich erschienenen Nachfolgepublikation «Minha Casa – Nossa Cidade!» analysieren Marc Angélil und sein Mitarbeiter Rainer Hehl zusammen mit Studierenden das aktuelle Regierungsprogramm, um Mittellose in den Favelas mit Wohnungen zu versorgen. Drei Millionen neue Wohneinheiten sollen gebaut werden. «Die Haustypologien sehen denjenigen aus den 60er-Jahren zum Teil sehr ähnlich», sagt Marc Angélil. «Die Gefahr, dass man die Fehler von Cidade de Deus wiederholt, ist gross.»

Deshalb entwickelten die Architekten Vorschläge für eine populäre Architektur, die die Bedürfnisse und Lebenswelten der zukünftigen Bewohner besser berücksichtigt. Mit einigem Erfolg: «Als wir unser Projekt vor einem Jahr in einer Galerie in Rio de Janeiro präsentierten, wurden wir von den Reaktionen überwältigt», erzählt Angélil. Eine halbe Million Menschen protestierten für bessere Wohn- und Lebensbedingungen auf einem öffentlichen Platz vor der Galerie. Der zuständige Minister las von diesem Ereignis, schaute sich die Ausstellung daraufhin an und lud Rainer Hehl, den zuständigen Mitarbeiter Angélils, für eine Anhörung ein. Nun soll Hehl, unter dem Dach der Regierung und mit lokalen Partnern, 500 Wohneinheiten bauen, welche die gesammelten Erkenntnisse aus vier Jahren Forschung berücksichtigen.

Musikfabrik und Holzbau

Angélils Professorenkollegen Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner haben ebenfalls ein Faible für Brasilien. 2011 gewannen sie für ihr Projekt externe Seite «Grotão – Fábrica de Música» den Holcim Award für nachhaltige Konstruktion. Das multifunktionale Kulturzentrum wird einst mitten in Paraisópolis stehen, eine der grössten Favelas São Paulos mit über 100'000 Bewohnern. Ein Ort prekären Lebens, ohne Raum für kulturelle und gemeinschaftliche Tätigkeiten. Die «Musikfabrik» mit Musikschule, Konzertsaal, einer Sportanlage und öffentlichem Amphitheater ist als Katalysator für Gemeinschaft und Kreativität angelegt, der den Menschen neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen soll. Soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit gehen dabei Hand in Hand: Windkühlung, Abwasseraufbereitung und hybride Solarpanels sollen den Energie- und Ressourcenverbrauch so weit wie möglich reduzieren.

Ebenfalls um Nachhaltigkeit dreht sich die Kooperation von Annette Spiros Professur mit der Fakultät für Architektur und Urbanismus der Universität São Paulo. 2012 organisierten die Partnerinstitutionen in São Paulo ein Symposium zum Thema Holzbau. Trotz der gewaltigen Ressourcen fristet Holz in der brasilianischen Architektur noch immer ein Nischendasein. Im Zentrum stand dabei der Wissens- und Erfahrungsaustausch von Architekten, Ingenieuren, Holzbauunternehmen sowie Lehrenden und Forschenden aus der Schweiz und Brasilien. Gleichzeitig fand eine Ausstellung statt. Sie dokumentierte, wie die indigene Bevölkerung in einem kleinen Dorf in Matto Grosso elf ETH-Studierende in den traditionellen Holzbau einführten. Aufgrund des grossen Interesses und des positiven Feedbacks zum Symposium wird an der Universität derzeit ein Holzbaulaboratorium eingerichtet. Damit ist mehr erreicht als sich die Partner zu Beginn erhofft hatten: Der Holzbau wird zum ersten Mal überhaupt in der Lehre und Forschung Brasiliens verankert.

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