Ein Tempel für die Wissenschaft

Neun Jahre nach ihrer Gründung konnte die ETH Zürich 1864 ihr eigenes Haus beziehen. Das von Gottfried Semper entworfene Gebäude wurde so vor 150 Jahren zum Wahrzeichen der Ambitionen der Stadt Zürich und des jungen Bundesstaats Schweiz. Der Weg dorthin war jedoch steinig.

Vergrösserte Ansicht: hg westfassade
Sempers Entwurf der Westfassade enthielt Skulpturen, die aus Spargründen beim Bau weggelassen wurden. (Bild: ETH-Bibliothek, Bildarchiv)

«Der höchste Stolz Zürichs ist das eidgenössische Polytechnikum …» ist in einer illustrierten Chronik der Stadt Zürich von 1896 nachzulesen. Dieses begeisterte Urteil war nicht von Anfang an selbstverständlich, wie die Entstehungsgeschichte des ETH-Hauptgebäudes zeigt. Denn ein Monumentalbau von dieser Grössenordnung war dem zuvor in Zürich herrschenden Baugeschmack eher fremd. Man dachte städtebaulich vielmehr im Geist «republikanischer Einfachheit».

Umstrittener Stararchitekt

So war keineswegs von vornherein klar, ob der seit 1855 an der ETH lehrende Stararchitekt Gottfried Semper als Architekt für das ETH-Hauptgebäude der erwünschte Kandidat war. Er hatte zuvor in Dresden mit dem Bau des Dresdner Hoftheaters, des Vorläufers der heute noch berühmten Semperoper, und weiteren Bauten für architektonischen Glanz gesorgt. Zwar hatte Semper in Dresden als aktiver Teilnehmer der Dresdner Mairevolution von 1849 an der Seite des Komponisten Richard Wagner auch durchaus republikanischen Geist bewiesen, aber seine Bauten und Pläne zeugten nicht eben von der «republikanischen Einfachheit», die den Zürcher Stadtplanern am Herzen lag. Als Semper dem Ruf nach Zürich ans Polytechnikum gefolgt war, hatte er wohl erwartet, selbstverständlich auch der Architekt der neu zu bauenden Hochschule zu sein. Entsprechend verschnupft reagierte er, als man ihn einlud, sich als Mitkonkurrent an einem international ausgeschriebenen Wettbewerb für den Bau zu beteiligen.

Allerdings vermochte der Wettbewerb, an dem Semper schliesslich nicht als Mitbewerber, sondern als Preisrichter mitwirkte, mit seinen Ergebnissen letztlich offenbar niemanden zu überzeugen. Oder er war von vornherein nicht allzu ernst gemeint. Tatsache ist, dass der Bauauftrag 1858 an Semper und den Staatsbauinspektor Johann Caspar Wolff vergeben wurde. Letzterer war Semper ausdrücklich als «Sparkommissar» zur Seite gestellt, was diesen nachhaltig verbitterte. Denn auch finanziell waren die Zeichen in Zürich eher auf Sparsamkeit denn auf Grosszügigkeit gestellt. Der Schulrat hatte zunächst ein Bauprogramm entwickelt, das der Zürcher Kantonalregierung viel zu gross zu sein schien. Während der Schulrat ein Gebäude für 400 Studierende vorsah, schätzte der Regierungsrat, dass die Zahl der Studierenden kaum je 200 erreichen werde. Nach zähen Verhandlungen einigte man sich drei Jahre später, 1857, auf einen Kompromiss: Man übernahm weitgehend das ursprüngliche, grösser bemessene Bauprogramm, allerdings unter der Bedingung, dass auch die Universität Zürich im neuen Hochschulgebäude untergebracht würde. Die Baukosten wurden auf rund eine Million Franken geschätzt. Beide Schätzungen sollten sich rasch als falsch erweisen.

Begeisterung und Sparsamkeit

Semper sah offenbar wenig Grund, sich allzu sklavisch an Vorgaben zu halten. Weder hielt er sich an das ursprüngliche Wettbewerbsprogramm, noch beeindruckte ihn der vorgegebene Kostenrahmen. Sein selbstbewusster Entwurf, den er der Kantonsregierung im Herbst 1858 vorlegte, würde, das war leicht zu sehen, mit 1‘740‘000 Franken fast doppelt so viele Mittel erfordern. Dennoch muss er überzeugend gewesen sein und sogar Begeisterung ausgelöst haben. Denn schliesslich stimmte der Grosse Rat mit 170 gegen nur 2 Stimmen für den Bau und das damit verbundene Kreditbegehren. Gut möglich, dass das engagierte Pro-Votum des Unternehmers Alfred Escher, der von Anfang an die treibende Kraft hinter der Gründung der ETH war, den Ausschlag gab. Und nicht zuletzt mag die Aussicht, dass der Bau, so wie er von Semper geplant war, in seiner Eleganz und Monumentalität ohne Weiteres mit dem Berner Bundeshaus konkurrieren konnte, die Zürcher zu mehr Grosszügigkeit verlockt haben. Im Februar 1859 genehmigte auch der Bundesrat das Bauvorhaben.

Vergrösserte Ansicht: Gottfried Semper, Architekt des ETH-Hauptgebäudes, im Jahr 1865
Gottfried Semper, der Architekt des ETH-Hauptgebäudes, im Jahr 1865. (Bild: ETH-Bibliothek, Bildarchiv)

Im Herbst 1860 schliesslich wurde die Baugrube für das ETH-Hauptgebäude ausgehoben. Der Bau schritt einigermassen zügig voran, auch wenn sich Semper aus Kostengründen immer wieder zu Kompromissen gezwungen sah. So wurden die oberen Fassadenbereiche nicht aus Sandsteinquadern gefügt, sondern gemauert und mit Putz versehen. Auch auf die Skulpturen, die den Mittelteil der die Stadt überragenden Westfassade schmücken sollten, die damals den Hauptzugang zum Gebäude darstellte, musste Semper verzichten. Sein «Heiligthum der Wissenschaften und der Künste», als das er das ETH-Hauptgebäude verstand, sollte jedoch immerhin eine würdige Innenausstattung erhalten, die heute noch in der kunstvoll ausgemalten Aula des Hauptgebäudes erkennbar ist.

Was von Semper bleibt

Allerdings stammt manches, was bei heutigen Besuchern des ETH-Hauptgebäudes einen prägenden Eindruck hinterlässt, nicht von Semper, sondern wurde erst Anfang des 20. Jahrhunderts mit dem Umbau durch Gustav Gull realisiert. Er verlegte den Haupteingang von Westen nach Osten zur Rämistrasse und konzipierte den ursprünglich einstöckigen zentralen Antikensaal Sempers als mehrgeschossige Haupthalle. Und er krönte den ETH-Bau mit der heute als ETH-Wahrzeichen geltenden Kuppel. Sie sollte ein würdiges Gegengewicht zum Turm des neuen Universitätsgebäudes darstellen, das die Universität Zürich 1914 bezog.

Zunächst jedoch waren Universität und ETH Zürich plangemäss gemeinsam unter dem Dach des semperschen ETH-Hauptgebäudes vereint, das sie 1863 bis 1864 nach und nach beziehen konnten. Der Universität Zürich war der Südflügel zugeteilt. Rasch stellte sich heraus, dass das neue Gebäude keineswegs zu gross geplant war, sondern von Anfang an fast aus den Nähten platzte, weil die Studierendenzahlen bereits im Bezugsjahr alle ursprünglichen Schätzungen übertrafen. Die Studenten waren übrigens am wenigsten begeistert vom neuen Hauptgebäude, weil sie nicht ganz grundlos befürchteten, durch die Zentralisierung in einem Gebäude zu sehr unter die Kontrollfuchtel von Schulleitung und Professoren zu geraten. Dessen ungeachtet galt Sempers Gebäude im umliegenden Ausland bald als Musterbeispiel für einen insbesondere ästhetisch äusserst gelungenen Hochschulbau. Semper habe «der Schweiz ein Gebäude gegeben, wie sie kein zweites besitzt und wie für ähnliche Zwecke kein anderes Land ein gleich herrliches aufgeführt hat», so eine begeisterte Reportage in einer zeitgenössischen deutschen Zeitschrift.

Dieser Artikel wurde ungekürzt aus dem aktuellen Globe übernommen.

Literaturhinweis

Werner Oechslin (Hrsg.): Hochschulstadt Zürich. Bauten für die ETH 1855–2005. gta Verlag, ETH Hönggerberg, 8093 Zürich, 2005. ISBN 3-85676-154-3

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