«Diese Chance müssen wir packen»
Die Digitalisierung verändert grundlegend immer mehr Lebensbereiche. Für ETH-Präsident Lino Guzzella ist klar: Dieser Wandel ist für die Schweiz eine grosse Chance, denn sie hat ideale Voraussetzungen, eine leistungsfähige Digitalindustrie aufzubauen.
ETH-News: Herr Guzzella, die Digitalisierung ist derzeit in aller Munde. Es gibt viele Medienbeiträge zu diesem Thema, Anlässe, Initiativen. Stehen wir tatsächlich vor einem Umbruch – oder ist dies einfach ein modischer Trend?
Lino Guzzella: In der Tat befassen sich derzeit viele Menschen mit dieser Thematik. Das ist auch gerechtfertigt, denn wir erleben eine Entwicklung, die unser Leben stark verändern wird.
Was zeichnet denn die Digitalisierung aus?
Das Wort «Digitalisierung» ist etwas irreführend. Denn die Digitalisierung setzte eigentlich schon viel früher ein, in den 1960er-Jahren, als man anfing, analog gesteuerte Maschinen mit digitalen Computern zu kontrollieren. Der zweite wichtige Schritt war, diese digitalen Computer zu verbinden. Das war zunächst teuer und aufwendig. Doch in den letzten Jahren hat sich die Technik so weit entwickelt, dass Daten überall in beliebiger Geschwindigkeit und zu beliebig tiefen Kosten verfügbar sind. Diese Daten werden dann zu Informationen und zunehmend auch zu Erkenntnissen veredelt und damit immer wertvoller. Diese Entwicklungen lassen eine neue Qualität des technologischen Wandels entstehen, den man auch als «digitale Transformation» bezeichnen kann.
Was heisst das konkret?
Kein Mensch weiss, wie die künftige digitale Welt aussehen wird. Die Vermutung ist: Die digitale Welt ist ein fruchtbares Biotop, das mit jeder neuen Spezies wertvoller wird. Ein leerstehendes Zimmer, der Bedarf nach Reisen und das Internet: Wenn man diese drei zunächst unabhängigen Sachen miteinander verknüpft, entsteht plötzlich ein neues Geschäftsmodell – wohlverstanden: ohne irgendwelche staatliche Förderung.
Und wo will sich die ETH in diesem Biotop positionieren?
Die ETH muss und will sich dort positionieren, wo sie stark ist. Unsere erste Stärke ist die Mathematik: Lernende Systeme, künstliche Intelligenz, autonome Systeme – ohne mathematische Grundlagen nicht denkbar. Unsere zweite Stärke ist das algorithmische Denken und die grosse Erfahrung in der Entwicklung von Softwaresystemen. Dazu kommt als drittes Element unsere Kompetenz in der Hardware-Entwicklung und im Engineering.
Die Schweiz verfügt bereits über ein inspirierendes IT-Umfeld. Welche Rolle spielt die ETH in diesem Umfeld?
Wir spielen immer die gleiche Rolle: Die ETH verbindet die Schweiz mit der Welt, bringt neues Wissen hierher und stellt dieses der Gesellschaft und der Wirtschaft zur Verfügung. Dazu müssen wir uns erstens an den führenden Forschungsnetzwerken beteiligen – und dies können wir nur, wenn wir zum exklusiven Klub der weltbesten Universitäten gehören. Zweitens müssen wir unser Wissen schnell weitergeben – über die Ausbildung von Studierenden, über die Zusammenarbeit mit Firmen und durch die Gründung von neuen Firmen.
Die ETH versteht sich also als aktive Impulsgeberin?
Wir verstehen uns nicht nur als Impulsgeberin, sondern als Mitgestalterin der digitalen Zukunft der Schweiz. Unser Land hat die Chance, in den Informationstechnologien eine leistungsfähige Industrie aufzubauen, die ähnlich wichtig wird wie es heute die Pharmaindustrie ist. Diese Chance sollten wir unbedingt ergreifen.
Mit der Gründung des Swiss Data Science Center im Februar hat die ETH zusammen mit der EPFL kürzlich einen Schritt in diese Richtung gemacht.
Man könnte hier auch weitere Initiativen nennen, wie das «Max Planck ETH Center for Learning Systems». Dreh- und Angelpunkt sind die Menschen: Wir brauchen mehr Fachkräfte, die sich in diesem Gebiet engagieren. Deshalb lancieren wir in diesem Herbst einen neuen Masterstudiengang in Datenwissenschaft.
Grosse Datenmengen spielen heute in vielen Forschungsfeldern eine zentrale Rolle. Was bedeutet diese Entwicklung für die Wissenschaft?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten. Manche Wissenschaftler sind überzeugt, dass man mit genügend vielen Daten und guten Algorithmen erkennen kann, was die Welt im Innersten zusammenhält. Der klassische wissenschaftliche Dreiklang – Hypothese, Experiment, Analyse – würde also überwunden. Daten sammeln und auswerten kann zu neuen Einsichten führen. Doch letztlich brauchen wir Forschende, welche die grundlegenden Zusammenhänge erkennen. Die Datenwissenschaft verhilft uns zu besseren empirischen Werkzeugen. Diese wiederum helfen uns, unsere Theorien zu verbessern.
Die Digitalisierung macht vielen Menschen Angst. Können Sie das nachvollziehen?
Ich kann das sehr gut nachvollziehen. Veränderungen lösen häufig Ängste aus. Der Punkt ist: Wir können nicht wählen, ob wir bei der digitalen Transformation mitmachen oder nicht. Wir können nur wählen, ob wir das als Chance sehen oder ob wir abseits stehen – mit Garantie auf Misserfolg.
Wie antworten Sie denn Menschen, die Angst haben?
Wir müssen ihnen die grossen Chancen aufzeigen und ihnen aus historischer Perspektive erklären, dass wir immer einen Fortschritt erlebten, wenn neue leistungsfähige Technologien entwickelt wurden. Vor 200 Jahren waren in der Schweiz 95 Prozent der Menschen in der Landwirtschaft tätig. Heute sind es noch 3 Prozent. Es tönt banal: Wir müssen den Wandel mit Freude, Neugier und einer positiven Haltung angehen, dann haben wir eine Chance. In der Vergangenheit hat dieses Rezept funktioniert, die Wahrscheinlichkeit ist gross, dass es auch in Zukunft funktioniert.
Wenn man an die Störmanöver vor den französischen Wahlen oder an die jüngsten Cyber-Attacken denkt, stellt sich dennoch die Frage: Ist die Digitalisierung eine Gefahr für unsere liberale Gesellschaft?
Selbstverständlich muss man solche Entwicklungen genau beobachten. Die Demokratie ist heute unter Druck. Deshalb brauchen wir informierte, aufgeklärte Menschen, die in der Lage sind, Informationen kritisch zu hinterfragen.
Braucht es nicht auch bessere technische Schutzmassnahmen?
Eine Gesellschaft muss sich immer gegen Bedrohungen schützen. Früher hatte Zürich eine Stadtmauer, heute brauchen wir informationstechnische Schutzmauern, wie wir sie bereits seit 2003 im «Zurich Information Security & Privacy Center» (ZISC) der ETH aufbauen.
Forscher des ZISC schlagen vor, das Internet auf eine neue Grundlage zu stellen. Ist das realistisch?
Dieses Projekt ist eine grosse Chance. Die Grundlagen des Internets wurden unter ganz anderen Voraussetzungen entwickelt als sie heute herrschen. Eigentlich ist es ein Wunder, dass dieses Gebilde noch immer so gut funktioniert. Das Projekt SCION (Scalability, Control, and Isolation on Next-Generation Networks) ermöglicht nun, Daten wirklich sicher zu transferieren. Die Schweiz könnte dank der ETH zum ersten Land mit einem sicheren Internet werden – und den Weg ebnen für viele spannende Anwendungen.
Sicherheit im Cyberspace – der Cyber Risks Summit
Neue Informationstechnologien (ICT) bieten grosse Chancen, bergen aber auch Risiken. Um diesen Gefahren zu begegnen, ist es wichtig, die theoretischen Grundlagen der Informationssicherheit zu verstehen. Daneben braucht es auch praktisches Wissen, wie man mit Sicherheitsbedrohungen umgeht. Am Cyber Risks Summit werden Keynote-Referenten zunächst über neue Erkenntnisse aus der Forschung berichten. Das anschliessende Podium im zweiten Teil geht der Frage nach, wie die Schweiz zum ersten «Internet-sicheren Land» werden kann.
Montag, 26. Juni 2017, 14.15 bis 20.30 Uhr
ETH-Hauptgebäude, Auditorium Maximum
Programm und Anmeldung unter: https://zisc.ethz.ch/events/summit-de/