«Den Urlaub nicht als Glücksautomatismus belasten»

Reisen und Glück stehen in einem komplizierten Verhältnis – das wussten bereits die Stoiker. Ein Gespräch mit dem Philosophen Michael Hampe über die Chancen und Risiken des Verreisens.

<b>Der Philosoph Michael Hampe braucht den Tapetenwechsel, um in Ruhe nachdenken und schreiben zu können. (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)</b>
Der Philosoph Michael Hampe braucht den Tapetenwechsel, um in Ruhe nachdenken und schreiben zu können. (Bild: Peter Rüegg / ETH Zürich)

Herr Hampe, noch nie war Reisen populärer: Auch diesen Sommer fahren wieder Millionen Europäer ins Ausland, legen sich an den Strand, erklimmen atemberaubende Berge oder erkunden Kathedralen und Museen in fremden Städten. Wie hat sich die Art des Reisens und was sich die Menschen davon erhoffen über die Zeit verändert?
Es gibt ganz unterschiedliche Antriebe, um zu Verreisen. Bildungsreisen, wie sie zum Beispiel in der Neuzeit populär waren, gibt es noch immer – eine ganze Industrie hat sich auf naturkundliche und kulturelle Reisen spezialisiert. Mit der Industrialisierung des Urlaubs wurde das Reisen an einen fernen, aussergewöhnlichen Ort zunehmend zu einem sozialen Prestigeobjekt. Die Leute unterhalten sich darüber, wo sie in den Ferien waren. Es entstehen Konkurrenzverhältnisse, die sich zum Beispiel in Diskussionen darüber äussern, wer schon wie oft auf den Fidschi-Inseln war.

Auch Bildungsreisende kamen meist aus gutem Haus. War Reisen also nicht schon immer mit Prestige verbunden?
Das stimmt, aber erst mit dem Aufkommen der Arbeitsgesellschaft wurde der Urlaub und das Reisen populär. Unsere Vorstellung von Arbeit als Normalzustand mit Leerräumen der Musse ist für diese Gesellschaft charakteristisch. Im Latein zum Beispiel wird die Arbeit noch als negotium bezeichnet und damit als «Nicht-Musse» definiert. Denn der Normalzustand in einer Sklavengesellschaft war der müssige. Politische, künstlerische oder wissenschaftliche Tätigkeiten galten nicht als Arbeit. Das Verhältnis von Musse und Arbeit ist heute genau umgekehrt. Nicht einmal Reiche würden heute noch sagen, dass sie nicht arbeiten, denn dann wären sie ja arbeitslos.

Weshalb wurde der Urlaub gerade in dieser Arbeitsgesellschaft populär?
Arbeit bereitet vielen Menschen keinen Spass mehr. Sie erschöpft sie und sie müssen sich von ihr erholen, weil diese psychisch und physisch belastend ist. Wie der Sportler, so braucht nun auch der Arbeiter eine Regenerationszeit. Das ist ein relativ neues Phänomen.

Viele Philosophen haben Reisen als etwas Profanes und als eine Form des Davonlaufens beschrieben, so zum Beispiel Hans Magnus Enzensberger, Friedrich Nietzsche und Jean Baudrillard. Woher kommt diese Geringschätzung für eine Tätigkeit, die viele Menschen zu den schönsten überhaupt zählen?
Philosophen erkannten im Reisen oft eine Art von Eskapismus. Sie kritisierten den Gedanken, dass man seine Lebensprobleme durch einen Ortswechsel lösen kann. Das spielte vor allem bei den Stoikern eine wichtige Rolle: Seneca entlarvte diese Illusion. In der Regel haben Lebensprobleme ja weniger mit dem Ort, als vielmehr mit dem eigenen Charakter und den eigenen Gewohnheiten zu tun. Dem kann man im Urlaub nicht entfliehen.

Für die Stoiker war es also eine Tugend in Athen zu sitzen, ohne die Welt um sich herum zu entdecken?
Eskapismus wird von vielen Philosophen negativ bewertet. Auch bei Sokrates ist das sehr prägnant: Als er einen Strafprozess verliert und zum Tode verurteilt wird, bestechen seine Freunde die Gefängniswachen. Er hätte aus Athen weglaufen können, hat es aber nicht getan, weil er das Exil als schreckliche Alternative ansah, die dem Tod nicht überlegen sei.

Nicht alle dürften der negativen Konzeption des Reisens von Sokrates zustimmen.
Man muss bedenken: Philosophen sind Stubenhocker, die vor allem lesen und schreiben. Für sie ist das normal. Für andere, die gerne wandern und unterwegs sind, wäre das eine Tortur. Auch für nomadische Völker wäre dieses ständige Auf-einem-Flecken-Sitzen ziemlich abwegig. Philosophie ist eine Tätigkeit von sesshaften, besitzenden Leuten in Städten. Das muss man berücksichtigen, wenn Philosophen das Reisen betrachten.

«Philosophen sind Stubenhocker, die vor allem lesen und schreiben. Für sie ist das normal. Für andere, die gerne wandern und unterwegs sind, wäre das eine Tortur.»Michael Hampe, Philosoph
Michael Hampe

Als wir dieses Interview vor zwei Wochen vereinbart haben, befanden Sie sich in Moskau für eine Vortragsreise. Das lässt nicht auf die Agenda eines Stubenhockers schliessen.
Natürlich fährt man als Wissenschaftler an einer modernen Hochschule oft an Kongresse oder hält an anderen Universitäten Vorträge. Ich forciere das jedoch nicht. Um mich auf meine Arbeit konzentrieren zu können, versuche ich möglichst sesshaft zu sein. Das hat seine eigene Qualität.

Überträgt sich das auch auf ihren Urlaub?
Ja, ich fahre seit dreissig Jahren immer wieder an denselben Ort an der Nordsee, wo ich mich nicht eingewöhnen muss und trotzdem einen Wechsel habe. Neben meinen akademischen Dienstreisen brauche ich keine weiteren Reisen während meiner Urlaubszeit. Ich suche dann vielmehr die Ruhe.

Ruhe, um weiterarbeiten zu können?
Ja, um in der geistigen Arbeit wieder einmal eine lange Strecke zur Verfügung zu haben. Im akademischen Alltag wird man ja oft durch Verwaltungsaufgaben, Sitzungen oder Vorträge beim Schreiben unterbrochen. Das erzeugt Stress, weil man sich andauernd in andere Texte als den, den man gerade zu schreiben versucht, hineindenken muss. Vier Wochen, während derer ich beim Schreiben nicht unterbrochen werde, sind für mich sehr erholsam, auch wenn ich während dieser Zeit relativ viel nachdenke. Das ist das Privileg, wenn Sie einer sinnstiftenden, nicht entfremdeten Arbeit nachgehen. Künstlern geht das wahrscheinlich ähnlich. Man kann sich nach einer ruhigen Phase ungestörter Kreativität genauso sehnen, wie nach der Unterbrechung der alltäglichen Routine.

Wir sprachen bislang vor allem über negative Konzeptionen des Reisens. Nun gibt es aber auch die romantische Idee, dass der Mensch durch Reisen zu einem weitsichtigeren Wesen wird.
Die Frage ist, durch welche Art des Reisens diese Entwicklung gefördert wird? Wenn Sie in ein Touristenresort fahren, ist die Chance, eine andere Kultur kennenzulernen, gering. Wenn Sie aber ein Jahr lang in einem anderen Land arbeiten, entwickeln Sie einen anderen Blick auf ihr Herkunftsland. Sie beginnen die Selbstverständlichkeiten zuhause zu hinterfragen. So ging es zumindest mir, als ich nach einem Englandaufenthalt nach Deutschland zurückkam. Die offen zur Schau getragene Hierarchie im englischen Studienwesen schärfte meinen Blick für die versteckte Hierarchie an den Universitäten in Deutschland.

Gibt es bestimmte Prämissen, damit das Reisen zu einem aufklärerischen Akt wird und den kosmopolitischen Blick schärft?
Man muss den Verdacht haben, dass man die Welt aus der eigenen Perspektive unvollständig und einseitig sieht, um sich durch das Fremde verändern zu lassen. Sicherlich gibt es Borniertheit, die aus der Unkenntnis fremder Kulturen hervorgeht. Doch wer sowieso denkt, dass die eigene Sicht auf die Welt die einzig gültige ist, der begegnet auch in der Fremde lauter ungültigen und falschen Weltsichten und Verhaltensweisen. Wer hingegen eine gewisse Disposition hat, sich durch das Fremde verändern zu lassen, ist wahrscheinlich von Natur aus nicht besonders borniert.

Zum Schluss: Können Sie unseren Leserinnen und Lesern einen Rat erteilen, wie Ferien zu einem Glückserlebnis werden?
Ein niedriges Anspruchsniveau ist hilfreich, damit man den Urlaub nicht als einen Glücksautomatismus belastet. Hat man den Anspruch, 14 Tage ununterbrochen glücklich zu sein, kann sich das Glück schlecht einstellen. Zudem sollte man sich vor Wettbewerbssituationen hüten: Enttäuschungen entstehen oft, wenn man glaubt, aus Gründen des Prestiges einen bestimmten Urlaub machen zu müssen, obwohl man das gar nicht will. Hinzu kommt, dass unterschiedliche Menschen unterschiedliche Erfahrungen für wichtig halten. Das führt im Urlaub oft zu Problemen. Ich kenne das von meinem eigenen Sohn. Wenn die Eltern ins Museum wollen, leidet er, und wenn er jammert, dann leiden die Eltern. Eine gewisse Kompromissbereitschaft ist für einen gelungenen Urlaub nötig.

Zur Person

Michael Hampe ist seit Wintersemester 2003/04 ordentlicher Professor für Philosophie an der ETH Zürich. Er wuchs in Hannover auf, studierte Philosophie, Psychologie und Germanistik in Heidelberg und Cambridge. Seine Arbeitsgebiete umfassen die Philosophie und Geschichte der Erfahrungswissenschaften, die Kritische Theorie und Metaphysik, das Verhältnis von Wissenschaft und Öffentlichkeit sowie Techniken der Selbsterkenntnis.

Sommerserie

Im Rahmen einer Serie präsentiert ETH-News während der Ferienzeit regelmässig Beiträge zu Forschung und Innovation, welche etwas mit der schönsten Zeit des Jahres zu tun haben. Das Interview mit Philosophieprofessor Michael Hampe ist der erste Teil. Weitere Beiträge folgen.

JavaScript wurde auf Ihrem Browser deaktiviert