Nicht das «Was» zählt, sondern das «Warum»
Die Euphorie um Big Data steht in einem bemerkenswerten Gegensatz zu den vorzeigbaren Resultaten in den Sozialwissenschaften, meint Frank Schweitzer.
Dass unsere digitalen Spuren kontinuierlich erfasst, irgendwo gespeichert und ausgewertet werden, daran haben wir uns bereits gewöhnt. Die Werbeindustrie wurde dadurch revolutioniert, und Firmen wie Uber oder Amazon nutzen unsere Daten, um noch effizienter zu sein. Die weitere Diskussion, wie die Digitalisierung unser Leben beeinflusst, erschöpft sich allerdings in Mutmassungen, was Google oder Facebook wohl mit diesen Daten noch alles anstellen.
Überforderte Sozialwissenschaftler?
Natürlich gibt es grosse Fortschritte in der Grundlagenforschung, etwa in der Spracherkennung und der Bildverarbeitung. Erfolgsmeldungen über existierende Big-Data-Anwendungen im sozialwissenschaftlichen Bereich sind hingegen spärlich. Im externe Seite Gartner Hype Cycle hat «Big Data» bereits 2014 den Übergang vom «Gipfel der überzogenen Erwartungen» zum «Tal der Enttäuschungen» vollzogen. In den Grundlagenwissenschaften geht es vor allem um die technischen Voraussetzungen, grosse Datenmengen effizient zu erfassen und zu speichern, sowie diese automatisch zu verarbeiten. Verfahren der künstlichen Intelligenz, wie das maschinelle Lernen, haben dabei ein grosses Potenzial. Nur die Sozialwissenschaften konnten davon bisher wenig profitieren. Sie scheinen sogar Terrain an andere Disziplinen zu verlieren. Ich beobachte, dass Sozialwissenschaftler, statt aus der Datenflut Nutzen für ihre empirische Forschung zu ziehen, oftmals überfordert sind von den sich bietenden Möglichkeiten.
«Sozialwissenschaftler sind also unabdingbar, damit die «computational science» auch eine «social science» wird.»Frank Schweitzer
Die Lücke, die sich hier auftut, wird von anderen Wissenschaftsdisziplinen ausgefüllt – von Ingenieuren, die zum Beispiel Sensordaten über individuelle Mobilität erfassen, und von Informatikern, die statistische Muster aus solchen Daten extrahieren. Diese datengetriebene Entwicklung wird heute oftmals unter dem Begriff «Computational Social Science» zusammengefasst. In der Vergangenheit erlag man der Illusion, dass der klassische Ansatz der Sozialwissenschaften, nämlich «Hypothese – Modell – Verifizierung», überflüssig werden wird. Stattdessen würde eine neue Form von Sozialwissenschaft entstehen, in der Theoriebildung durch das maschinelle Lernen von sozialen «Gesetzmässigkeiten» aus den Daten ersetzt wird.
Daten sind ein Arbeitswerkzeug
In der Tat kann die Datenwissenschaft helfen, Forschungsfragen der Sozialwissenschaften zu beantworten. Aber sie wird nicht dazu dienen, solche Fragen zu entwickeln. Die «Entdeckung» von statistischen Korrelationen kann die wissenschaftliche Aufklärung von kausalen Wirkungszusammenhängen nicht ersetzen. In den Sozialwissenschaften geht es nicht nur um das «Was», sondern auch um das «Warum». Sozialwissenschaftler sind also unabdingbar, damit die «computational science» auch eine «social science» wird.
Gefragt sind allerdings neuartige Modelle sozialer Interaktion, die bereits während ihrer Entwicklung die Kalibrierung und Validierung anhand von grossen Datenmengen – wie sie uns vorher nicht zur Verfügung standen – berücksichtigen. Dies verlangt eine neue Methodenkompetenz, und es ist Aufgabe der Hochschulen, diese zu vermitteln. Wir stellen uns dieser Herausforderung, indem wir an der Professur für Systemgestaltung Lehrveranstaltungen zur Theorie komplexer Netzwerke, zur agentenbasierten Modellierung sozialer Systeme und zur statistischen Analyse sozialer Daten entwickelt haben.
Sozialwissenschaften bleiben wichtig
Doch auch das Umgekehrte gilt: Die Ingenieurwissenschaften können von den Sozialwissenschaften profitieren. Technische Systeme sind heute abhängig von der sozialen Komponente – ihren Nutzern. Das Design einer smarten Energieversorgung oder einer gemeinschaftlich genutzten Plattform zur Softwareentwicklung kommt ohne Berücksichtigung von menschlichem Verhalten und sozialen Beziehungen nicht aus. Hier haben die Sozialwissenschaften ihre Kernkompetenz. Es braucht also eine interdisziplinäre Ausbildung auch von Ingenieuren und Informatikern. Gerade jetzt, wo die Grundlagen einer «computational social science» sich erst noch entwickeln, haben wir die Chance zur fachübergreifenden Zusammenarbeit. Ich bin überzeugt, das entscheidet über den Erfolg der Disziplinen – und zwar auf beiden Seiten.