Verwandlungskünstlern auf der Spur
Manchmal verändern sich Viren und Bakterien genetisch so, dass sie neue Eigenschaften entwickeln, die sie für Menschen gefährlicher machen. Die mathematischen Modelle von Tanja Stadler geben Aufschluss, wie schnell sie sich verändern und ausbreiten können.
Wie kommt es, dass viele Antibiotika bei Tieren und Menschen nicht mehr wirken? Was verbindet die Antibiotikaresistenz von Bakterien mit den Viren, die Infektionskrankheiten wie Grippe oder Ebola auslösen? Und was teilen sie mit der Evolution der Pinguine?
So unterschiedlich diese Erscheinungen sind: Die Vorgänge, die ihnen zugrunde liegen, lassen sich mit mathematischen Modellen beschreiben, die einander sehr ähnlich sind. Hier setzt Tanja Stadler mit ihrer Grundlagenforschung an. Die Mathematikerin befasst sich heute als Professorin am Departement Biosysteme mit Viren, Bakterien, Stammzellen und der Entstehung der Arten.
Ihr Augenmerk gilt der genetischen Information, die bei allen Lebewesen und Viren in der Erbsubstanz steckt. Dank neuster biologischer Analyseverfahren wie der DNA-Sequenzierung ist diese Information heute vergleichsweise leicht verfügbar. Sie ermöglicht Einsichten in Vorgänge, die den Verlauf von Epidemien oder die Evolution beeinflussen. Im Prinzip lassen sich die Gensequenzen lesen wie ein «Buch des Lebens».
Modelle als Lupen
Von Galileo Galilei stammt der Satz, das Buch der Natur sei in der Sprache der Mathematik geschrieben. Beide Bilder passen zu Tanja Stadler, schliesslich verbindet sie mathematische Grundlagenforschung mit der Anwendung in Biologie und Medizin. «Wir entwerfen mathematische Modelle, mit denen man die Entwicklung und Veränderung der genetischen Information fassen und erklären kann», sagt sie. Diese Modelle kann man sich wie eine Lupe vorstellen, mit der man bisher unlesbare Stellen im Buch des Lebens neu verstehen kann.
Die theoretischen Grundlagen ihrer Modelle leitet Stadler aus der Stochastik her: Dieses Teilgebiet der Mathematik erforscht Zufallsprozesse und Modelle für Ereignisse und Entwicklungen, die nur manchmal eintreten, weil der Zufall hineinspielt, und für die man nicht vorhersagen kann, wann sie genau eintreten. Ein Spezialgebiet in Stadlers Forschung sind Geburts- und Sterbeprozesse. Sie wendet sie auf genetische Mutationen und Fortpflanzung an. Mutationen treten auch plötzlich und nur manchmal ein. Wenn sie aber eintreten, dann werden sie in zufällig auftretenden Fortpflanzungsereignissen vererbt.
Mit Zufallsprozessen untersucht Stadler Änderungsraten: Wie schnell verändert sich die genetische Information von Menschen und Tieren, Organismen und Viren? Wie schnell wird sie auf die Nachkommen vererbt oder gar auf andere Arten übertragen? Das können sehr langfristige Veränderungen sein: Gemeinsam mit neuseeländischen Forschenden konnte sie nachweisen, dass die ersten Pinguinarten vor 12,5 Millionen Jahren entstanden sind.
Für die Medizin und den Umgang mit Epidemien besonders aufschlussreich sind schnelle Veränderungen: Grippeviren mutieren so, dass Patienten schon in einer Epidemie von wenigen Monaten mit recht unterschiedlich mutierten Viren infiziert sind. Bakterien in der Tierproduktion können sich innert Wochen oder Monaten so verändern, dass sie der Wirkung von Antibiotika entrinnen können. Doch wie schnell geben sie eine solche Resistenz an die nächste Generation weiter oder befallen damit Menschen?
«Wenn wir laufend aktuelle genetische Daten haben, können wir feststellen, wie schnell sich ein mutiertes Virus oder ein resistentes Bakterium in einer Stadt oder Region ausbreitet, und Rückschlüsse ziehen, welche Ansteckungsgefahr für Menschen besteht», sagt Stadler. Auch die Übertragungswege eines Erregers lassen sich nachvollziehen: Je ähnlicher die Erbinformation von Erregern aus zwei verschiedenen Menschen ist, umso direkter wurde der Erreger zwischen diesen Personen übertragen.
Spärliche Daten, kluge Modelle
Nur sind die Übertragungswege der Krankheitserreger im Verlauf einer Epidemie oft so verschlungen und zufällig, dass Stadler mit vergleichsweise wenigen Sequenzierdaten auskommen muss. Meist ist nur die genetische Sequenz eines Krankheitserregers von wenigen Patienten oder Tieren bekannt, und auch nur zu einem einzelnen Zeitpunkt während der Infektion – «Sparse Data» oder «spärliche Daten» lautet das Stichwort, nicht «Big Data». «Wir arbeiten immer mit unvollständigen Momentaufnahmen», sagt sie. Das ist, wie wenn man die Geschichte einer ganzen Stadt schreiben wollte, aber nur eine Fotografie hat.
Wie eine Detektivin setzt Stadler ihren wissenschaftlichen Spürsinn ein, um eine aussagekräftige Datengrundlage zu erhalten. Dazu arbeitet sie mit den Forschenden des Universitätsspitals Basel zusammen, zum Beispiel über antibiotikaresistente Kolibakterien. Um deren Ausbreitung abzuschätzen, hat sie Patientendaten des Spitals mit Daten aus der Tier- und Agrarproduktion und aus Abwässern kombiniert. Die Sequenzdaten sollen unter anderem Aufschluss geben, was passiert, wenn sich resistente Keime in der Tierproduktion bilden. Damit die mathematischen Modelle die unvollständige Datenlage ausgleichen, müssen ihre Annahmen dem Wissensstand aus Biologie und Medizin entsprechen, sagt Stadler. Sonst werden die Resultate ungenau – wie sie für die Ebola-Epidemie von 2014 nachwies.
Tanja Stadler hat einen Traum: Noch schreibt sie für jede Einzelfrage ein eigenes Modell. Eines für Grippe, eines für Kolibakterien, eines für Pinguine und so weiter. Wie die Mitglieder einer Familie teilen diese Modelle gewisse Eigenschaften. Daraus und «weil ich für jedes Modell sagen kann, welche Fragen es nicht beantwortet», will Stadler ein «Super-Modell» herleiten, das sich gleichermassen auf Viren, Bakterien, Tiere und Menschen anwenden lässt. «Solche übergeordneten Forschungsfragen bereiten mir besonders viel Spass.»