Der Inder, der auszog, das Geheimnis turbulenter Strömungen zu enthüllen

Lawinen, Tsunamis, Sonnenstürme. Unstabile und turbulente Strömungen fesseln Siddhartha Mishra. Um ihre gemeinsamen Ursachen zu verstehen, verbindet er Mathematik mit wissenschaftlichem Computing. Dabei helfen ihm die Gleichungen, die der Schweizer Leonhard Euler als erster aufschrieb.

Vergrösserte Ansicht: Modellierung als Berufung: Siddhartha Mishra entwirft die Gleichungen und Algorithmen, mit denen man turbulente Strömungen im Computer nachbilden kann. (Bild: Florian Bachmann)
Modellierung als Berufung: Siddhartha Mishra entwirft Gleichungen und Algorithmen, um turbulente Strömungen im Computer nachzubilden. (Bild: Florian Bachmann)

Wenn eine Lawine einen Steilhang hinunter zu Tal donnert, dann erhebt sich mitunter eine gewaltige Staubwolke über ihr. Sind Fallhöhe und Schneemenge gross genug, vermischt sich der aufgewirbelte Schnee mit der Luft, und es entwickelt sich eine Wolke aus Schneestaub. Solche Staublawinen können grosse Schäden anrichten, da sie bis zu 300 Stundenkilometern schnell werden. Zudem schieben die Staubwolken eine Druckwelle vor sich her.

Ein Mittel, um solche Staublawinen noch besser zu verstehen, sind mathematische Modelle und Computersimulationen. Siddhartha Mishra beherrscht beides. Über Lawinen hatte der Inder nie nachgedacht, bevor er, 2009 zum ETH-Professor für Mathematik ernannt, in die Schweiz kam. Aufgewachsen ist er fernab jeglichen Schneetreibens im tropischen Klima der Küste am Golf von Bengalen. Sein Vater war Hotel-Manager in Bhubaneswar, der Hauptstadt des indischen Bundesstaats Odisha, und als Kind war es sein Wunsch, einmal zu wissen, «was die Sterne zum Scheinen bringt».

Mit Bildern und Gleichungen denken

Weit bis in sein Studium wollte er Physiker werden: «Beim Übertritt ins Masterstudium zeigte sich, dass ich doch mehr wie ein Mathematiker denke und weniger wie ein Physiker», erinnert sich Mishra und ergänzt, «ein Mathematiker denkt stärker in Symbolen, Gleichungen und Bildern als in aktuellen, physikalischen Phänomenen.» Ihn fesselt, dass man mit Gleichungen Naturerscheinungen beschreiben kann, die in der wirklichen Welt sehr verschieden erscheinen können, aber mathematisch eine ähnliche Grundlage haben.

Vergrösserte Ansicht: Der Kern einer Lawine verhält sich ähnlich wie die Strömung eines Flusses, während die sich darüber ausbreitende Staubwolke viel chaotischer ist. (Bild: Perry Bartelt / WSL)

Ein Forscher aus dem ETH-Bereich weckte Mishras Interesse für Lawinen: Perry Bartelt hat am WSL-Institut für Schnee- und Lawinenforschung in Davos ein Software-Paket entwickelt, mit dem sich die Gefahren von Lawinen berechnen und Schutzmassnamen einschätzen lassen. «Diese Lawinenmodellierung ist eine der besten weltweit, wenn nicht die beste», sagt Mishra. Seine Expertise war im Zusammenhang mit dem Schneestaub gefragt. Die Wolke richtet nicht nur oft grössere Zerstörung an, sondern sie ist auch schwieriger zu modellieren als der Kern der Lawine.

In ihrem Kern besteht die Lawine aus einer dichten Ansammlung von Schnee und Eis. Wenn sie talabwärts stürzt, zieht sie sich linienförmig in die Länge – so wie dies das Bild des «Schneebretts» ausdrückt. Mit dem Blick des Mathematikers erkennt Mishra, dass sich der Kern einer Lawine ähnlich wie die Strömung eines Flusses verhält, wohingegen sich die Staubwolke darüber viel chaotischer ausbreitet. Für die Modellierung wichtig ist, dass sich die Wolke wie eine so genannte Zweiphasenströmung verhält, in der sich Schneestaub und Luft miteinander vermischen.

Turbulenzen: Das Rätsel aus Eulers Gleichungen

Für solche Strömungen wie auch für Druck- und Schockwellen kennt die Mathematik bestimmte Gleichungen. Mishras spezielle Expertise ist es, die Gleichungen zu untersuchen, die zur mathematischen Modellierung der Staublawinen nötig sind und die Algorithmen zu entwerfen, damit man sie im Computer simulieren kann. «Das mache ich am liebsten: Algorithmen entwerfen, mit denen man verschiedene Arten von unstabilen und turbulenten Strömungen simulieren kann.»

Wie die Lawinen haben auch die Strömungsgleichungen einen Bezug zur Schweiz: Sie gehen auf den Schweizer Mathematiker Leonhard Euler (1707-1783) zurück. Mit dem mathematischen Modell, das dieser entwickelte, lassen sich reibungsfreie Fluide, also das Verhalten von vielen Flüssigkeiten und Gasen, beschreiben.

Die «Euler-Gleichungen» sind in den Natur- und Ingenieurwissenschaften sehr verbreitet, denn sie lassen sich auf viele Strömungsphänomene in Physik und Technik anwenden: Mit ähnlichen Gleichungen wie jenen, die die Lawinen beschreiben, kann man auch Tsunamis, Hurrikane, Strömungen bei Flugzeugen, Wellenbewegungen auf der Sonne oder den Kollaps einer Super Nova modellieren. Trotz ihrer Verbreitung sind die «Euler-Gleichungen» und die ihnen verwandten «Navier-Stokes-Gleichungen», die für zähflüssige Strömungen entwickelt wurden, eines der grössten ungelösten Rätsel der Mathematik. «Bis heute fehlt uns mathematisch eine definitive Theorie, wie wir unstabile, turbulente Strömungen am besten modellieren und am Computer effizient berechnen können», sagt Siddhartha Mishra.

Kleine Veränderungen mit grosser Wirkung
 

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Turbulente Strömung: Wie Komplexes aus Einfachem entsteht. (Video: Kjetil Lye / Siddhartha Mishra)

Das mag erstaunen, schliesslich sind Strömungen vom Alltag her vertraut. Strömungen, und besonders turbulente, sind jedoch sehr komplexe und unstabile Phänomene, die sich nicht geradlinig entwickeln und auf unterschiedlichen Grössenordnungen ablaufen. Schon kleinste Veränderungen können komplexe Situationen erzeugen und zu völlig verschiedenen Ergebnissen führen. Entsprechend anspruchsvoll ist es, die Komplexität der Strömungen mit Gleichungen angemessen zu erfassen und zu simulieren (vgl. Video).

Mishra kombiniert nun die mathematische Modellierung mit effizienten Algorithmen und hochleistungsfähigen Supercomputern. Schliesslich sind die Gleichungen ihrerseits so umfangreich, dass man sie nicht von Hand oder mit dem Labtop lösen kann. Für diese Forschung hat er im vergangenen Jahr einen der begehrten ERC Grants bekommen, die als Qualitätssiegel der europäischen Spitzenforschung gelten.

Seine doppelte Expertise in angewandter Mathematik und Computersimulation bringt ihm einige Anerkennung ein: Die Industrie schätzt ihn als Berater – zum Beispiel, wenn es um die Simulation komplexer Plasma-Strömungen in der Hightech-Elektronik geht. Dazu erhielt er im Juni einen Preis, und im August darf er am Internationalen Mathematikerkongress in Rio de Janeiro als Eingeladener Sprecher sein Forschungsgebiet «Numerische Analysis und wissenschaftliches Rechnen» vorstellen (vgl. Box). Ausserdem steht eine grössere Publikation über statistische Lösungen bevor. So gesehen ist das Jahr 2018 für Mishra, wenn nicht turbulent, so doch bewegt.
 

Grossanlass der Mathematik

Der Internationale Mathematikerkongress (ICM) ist der wichtigste Anlass im Kalender einer Mathematikerin und eines Mathematikers. Organisiert von der Internationalen Mathematischen Union (IMU) findet er alle vier Jahre in einer Stadt statt, die der IMU auswählt. Zürich ist die einzige Stadt, die den Kongress seit der Erstaustragung schon dreimal veranstaltete (1897, 1932 und 1994).

In diesem Jahr stellt die ETH Zürich fünf Eingeladene Sprecher und Plenarsprecher am externe SeiteICM 2018, der vom 1. bis am 9. August in Rio de Janeiro stattfindet. Vier Forscher kommen aus dem Mathematikdepartement, einer aus dem Informatikdepartement.

  • Rahul Pandharipande: Plenarsprecher
  • Peter Bühlmann: Wahrscheinlichkeit und Statistik
  • Thomas Willwacher: Topologie und Mathematische Physik
  • Siddhartha Mishra: Numerische Analysis und wissenschaftliches Computing
  • David Steurer: Mathematische Aspekte der Computerwissenschaft
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