Forschung, die sich an der Praxis misst
Der ETH-Politikwissenschaftler Dominik Hangartner erhält einen der wichtigsten Schweizer Wissenschaftspreise. Der Nationale Latsis-Preis würdigt die Qualität seiner Migrationsforschung und deren Anwendbarkeit auf die Politik. Was bewegt Hangartner? Wieso reizt es ihn, Forschung in reale Politik zu übersetzen?
Mitunter gleicht Forschung einer Wanderung. Wenn Dominik Hangartner aufbricht, setzt er sich ein Ziel, speichert sich den Weg auf einer App und zieht los. Auch in der Forschung zeichnet ihn ein Gespür für neue Wege aus, kombiniert mit Zielstrebigkeit, Ausdauer und dem Einsatz neuer Computermethoden. Hangartner ist ETH-Professor für Politikanalyse.
Eine gesunde Mischung aus Geduld und Ungeduld sei typisch für ihn und seine Arbeitsweise, sagt er. Die Ungeduld treibt ihn an. Eigentlich möchte er die Antworten auf seine Forschungsfragen möglichst heute schon erhalten und nicht erst morgen. «Wissenschaftliche Qualität braucht jedoch Zeit, Grundlagenforschung ist kein Sprint», sagt Hangartner. Sie erfordert Geduld und Durchhaltekraft – bis die ursprünglichen Annahmen entweder zu Fakten verdichtet sowie hieb- und stichfest begründet sind oder, was in der Wissenschaft ebenso lehrreich sein kann, an der Empirie scheitern und verworfen werden: Dann beginnt die Wanderung von Neuem.
Die Spannung, die sich aus dem Tempo der Neugier und der Dauer der Forschung ergibt, fasziniert Hangartner. Sie ist ein Grund, weshalb er die Wissenschaft zu seinem Beruf gemacht hat. Ein anderer ist, dass er die Herausforderung liebt, wenn sich die Ergebnisse von Grundlagenforschung in der Praxis bewähren müssen: «Als Wissenschaftler möchte ich immer einen Schritt weitergehen. Dazu gehört auch, dass ich die Ergebnisse meiner Forschung in Anwendungen übersetzen und überprüfen kann.»
Spannungsfeld der Migration
Hangartner ist keiner, der im stillen Studio kühne Theorien entwirft. Die Daten, die er wissenschaftlich auswertet, stammen aus der politischen Praxis und entspringen oftmals Kollaborationen mit Ministerien, internationalen Organisationen oder Nichtregierungsorganisationen. Er untersucht die ökonomischen und politischen Auswirkungen von Migration, Asylverfahren und Integration sowie die öffentlichen Einstellungen zur Einwanderung.
Typische Fallbeispiele seiner Forschung sind der Zugang von Geflüchteten zu lokalen Arbeitsmärkten, die Gestaltung von Asylprozessen oder die Einbürgerung von Migrantinnen und Migranten. Als grosse Herausforderung erachtet Hangartner dabei, dass die Skepsis gegenüber Migration in vielen Aufnahmeländern zunehme. Zugleich nähmen jedoch die Ursachen, weshalb Menschen migrierten, nicht ab.
Einen Schwerpunkt setzt Hangartner entsprechend auf die Untersuchung, wie gut bestimmte Gesetze und Politikmassnahmen funktionieren, welche Effekte sie haben und wie man sie so verbessern kann, dass sich die Lage sowohl für die Migrantinnen und Migranten verbessert als auch für die Gemeinden, in denen sie leben.
«Unser Wissen soll innovative Lösungen in der Asyl- und Integrationspolitik ermöglichen, die für möglichst viele Menschen eine Verbesserung bewirken», sagt er. Allein in den vergangenen drei Jahren konnte er in verschiedenen Publikationen belegen, dass Staaten und Gemeinden durch lange Asylverfahren und Arbeitsverbote für Geflüchtete höhere Sozialkosten entstehen und Steuereinnahmen entgehen.
Namentlich der von ihm und Kollegen aus Stanford entwickelte «Zuteilungsalgorithmus» zeigt auf, wie er die Migrationspolitik unterstützen kann: Bei diesem Ansatz findet ein Computer-Programm anhand realer Daten heraus, wie gut die individuellen Charakteristika und Kompetenzen von Geflüchteten mit den Eigenschaften zusammenpassen, die in lokalen Arbeitsmärkten besonders gesucht sind.
Auf dieser Grundlage lässt sich die regionale Zuteilung der Geflüchteten in der Schweiz so optimieren, dass sie in eine Region gelangen, wo sie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit eine Arbeit finden. Wie gut der Ansatz in der Praxis funktioniert, testet derzeit das Staatssekretariat für Migration (SEM) in einem Pilotprojekt. Interesse dafür kommt auch aus den Benelux-Staaten und Skandinavien.
Unser Wissen soll innovative Lösungen in der Asyl- und Integrationspolitik ermöglichen, die für möglichst viele Menschen eine Verbesserung bewirken.Dominik Hangartner
Nun hat der Schweizerische Nationalfonds (SNF) Dominik Hangartner den Nationalen Latsis-Preis verliehen. Mit dieser Auszeichnung würdigt der SNF die hervorragende Qualität von Dominik Hangartners Migrationsforschung und deren Anwendbarkeit auf die Politik. Der Nationale Latsis-Preis zählt zu den wichtigsten Schweizer Wissenschaftspreisen und richtet sich speziell an Forschende, die höchstens 40 Jahre alt sind.
Hangartner empfindet den Preis als Wertschätzung für sein Team und als Anerkennung seiner Forschungsidee: «Schon früh in meinem wissenschaftlichen Werdegang hatte ich das Gefühl, dass man auf die schwierigen Fragen der Migrationsforschung mit einem empirischen Ansatz, der auf Daten und Statistik basiert, Antworten finden kann, die in konkrete Anwendungen münden.»
Ein Forscher und Fussballfan
Der Weg des 38-Jährigen in die Wissenschaft verlief rasant, aber nicht geradlinig. Aufgewachsen ist er in Luzern. Noch heute besitzt er eine Saisonkarte des FC Luzern. Während seiner Zeit am Gymnasium Immensee begeisterte er sich vor allem für Chemie. Nach der Matura entschied er sich jedoch für die Volkswirtschaft. Den Doktortitel erlangte er in den Politikwissenschaften. Damals entschied er, sich auf Migration zu fokussieren. In der Schule hatte er erlebt, wie Einbürgerungsgesuche von Schulkollegen an der Urne abgelehnt wurden. 2003 änderte sich diese Praxis aufgrund eines Bundesgerichtsentscheids.
Gleich nach dem Doktorat erhielt er eine Assistenzprofessur an der London School of Economics, die in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften zu den absoluten Hochburgen zählt. Nach einem Jahr als Gastprofessor im kalifornischen Stanford berief ihn die ETH Zürich 2016 nach Zürich. Hier leitet er die «Public Policy Group» und gleichzeitig eine Zweigstelle des Stanford – Zürich Immigration Policy Lab.
Bereits als Hilfsassistent wurde Hangartner klar, dass er die Wissenschaft zu seinem Beruf machen wolle. Im Studium der Volkswirtschaftslehre und Soziologie erhielt er eine fundierte Einführung in die mathematische Modellierung sozialen Verhaltens. Bis heute sind statistische Verfahren kennzeichnend für Hangartners Ansatz. Besonders wichtig sind für ihn die schnell wachsenden Gebiete der kausalen Inferenz und des maschinellen Lernens, sowie die Verbindung der beiden in «Causal Machine Learning». Dieser Ansatz ermöglicht es, Kausalzusammenhänge von zufälligen Korrelationen zu unterscheiden.
Dank maschinellem Lernen können Computer Zusammenhänge in komplexen Datensätzen finden, die Menschen sonst nicht – oder nicht innert nützlicher Frist – erkennen könnten. Beispiele dafür sind der erwähnte «Zuteilungsalgorithmus» oder die Diskriminierung bei Einladungen zum Vorstellungsgespräch, die Hangartner mit anderen ETH-Forschenden auf Online-Rekrutierungsplattformen misst.