Von Messexperimenten in WG-Küchen und Architektur-Modellen in Sandkästen
Was entsteht, wenn Architektur-Studierende wegen Covid-19 ohne Werkstatt, Elektrotechniker ohne Hochspannungslabors und Umweltnaturwissenschaftler ohne Exkursionen auskommen müssen.
Mitte Mai – es ist die Zeit, in der ETH-Studierende normalerweise auf Hochtouren an Projekten arbeiten: sie experimentieren im Labor, konstruieren Maschinen, Systeme und Roboter oder entwerfen Bauwerke. Jetzt aber ist der Campus verlassen, die Studierenden sind zuhause. Sie entwerfen und experimentieren aber trotzdem. Wie geht das? Vier Beispiele.
Messversuche ohne Hochspannung
Die Bachelorstudierenden in Elektrotechnik und Informationstechnologie können im dritten Jahr die Vorlesung «Mess- und Versuchstechnik» besuchen. Dort lernen sie, Experimente zu planen, durchzuführen und die Messungen zu interpretieren und zu dokumentieren. Normalerweise arbeiten die Studierenden mit Netzteilen, Funktionsgeneratoren, Hochspannungstastköpfen und Messgeräten wie Oszilloskopen. Jetzt aber mussten die Dozierenden um Professor Christian Franck Alternativen finden.
Einige Experimente zeichneten die Dozenten allein im Labor auf Video auf. Die Studierenden können ihre Fragen direkt in das Video kommentieren und führen zuhause ein Messprotokoll und werten die Daten aus.
Darüber hinaus erfanden die Dozenten das «Stay-at-home-Lab»: Die Studierenden entwerfen mit Messmitteln, die sie im Haushalt finden, eigene Experimente und führen diese nach einer Beurteilung durch die Dozierenden durch. Dabei entstand auch Ungewöhnliches: Eine Gruppe bestimmt das Wachstum von Gartenkresse über die Zeit, mit einem Glas, einem Messband und einem Blatt Papier. Eine andere bestimmt in Anlehnung an einen historischen Versuch anhand von Schattenwürfen an zwei Orten in Deutschland und der Schweiz den Erdumfang. Und eine dritte bestimmt die Effizienz von zwei Wasserkochern.
Dass einige der Versuche mit Elektrotechnik nichts zu tun haben, spiele keine Rolle, sagt Henning Janssen, einer der Dozenten aus der Gruppe von ETH-Professor Christian Franck. Die Studierenden könnten auch beim Messen von Gartenkresse lernen, Versuche zu planen und nachvollziehbar zu dokumentieren. Auch der Umgang mit Messunsicherheiten und die Interpretation der Resultate lasse sich damit üben.
Architektur in Seife geschnitzt
Entwurfsklassen gehören zum Kern des Architekturstudiums. Angehende Architektinnen und Architekten erhalten eine offene Aufgabe und entwickeln in kleinen Gruppen eine Idee, die sie mit Skizzen, Bildern, Plänen und Modellen mehrmals präsentieren und überarbeiten. Abgeschirmt im eigenen WG-Zimmer ist das schwieriger. Aber nicht unmöglich.
Die Entwurfsklassen finden auch im speziellen Frühlingssemester 2020 alle statt. Nur müssen an der Schlusspräsentation Studierende wie Experten ohne Modelle und Stellwände auskommen.
Die Studierenden in der Klasse von Architekturprofessor Tom Emerson nutzen die Microblogging-Plattform Tumblr, wo sie die Arbeit an ihren Ideen mit wöchentlichen Uploads von Zeichnungen, Plänen, Collagen und Bildern von rudimentären Modellen präsentieren. Ihre Aufgabe lautete, eine Sportarena am Zürcher Friesenberg auf dem Gelände der Albisgüetli-Schiessanlage zu entwerfen.
Womit die Gruppen ihren Bauwerksideen Form geben, ist ihnen überlassen. Basteleien seien willkommen, und im Kern ja eine für Architekten essenzielle Fähigkeit, schreibt Emerson im Kursbeschrieb. Es gehe darum, aus irgendetwas etwas Neues schaffen zu können. Dass das auch ohne Werkstätten und 3D-Drucker geht, zeigten die Studierenden bereits in der Zwischenkritik Ende April. Die externe Seite Tumblr-Seite zeigt neben zahlreichen Collagen und Skizzen auch Gelände-Modelle in Sandkästen, solche aus Erde und eines aus Papier-Maché.
Eine Gruppe schlug vor, die Betonfundamente der Zielscheiben auszugraben und die ganze Anlage zu einem Kletterpark umzufunktionieren (externe Seite mehr zum Projekt). Ihr Modell schnitzten sie – passend zur Gesundheitskrise – in ein Stück Seife.
Architektur-Entwürfe aus dem Lockdown
Neue Ideen aus Karton
Im Kurs «Innovation Leadership» der «Technology and Innovation Management Group» von ETH-Professor Stefano Brusoni arbeiten rund 20 Studierende an neuen Ideen für eine Firma aus dem Schweizer Bausektor. Bei dem zugehörigen Prototyping-Workshop entwerfen sie konkrete Lösungen für strategische Herausforderungen. Die Prototypen können Computerprogramme, Softwaretools oder Strategiepläne sein. Dabei arbeiten die Studierenden normalerweise in Kleingruppen zusammen und entwerfen aus Materialien wie Karton und Kleber einfache physische Modelle, die ihre Lösungsvorschläge verkörpern.
Der diesjährige Workshop fand genau eine Woche nach dem Start des Lockdowns an der ETH statt. Die Dozentinnen Daniella Laureiro-Martinez, Anna Dereky und Zorica Zagorac-Uremovic adaptierten den Workshop kurzerhand für den virtuellen Raum. Studierende, Dozierende und zwei Vertreter einer Baufirma trafen sich über die Plattform Zoom in einem virtuellen Raum, zogen sich zur Ideenentwicklung in Kleingruppen zurück, bauten mit Eierkartons, Pizzaschachteln, Zahnstochern, Papierschnippseln und Post-its erste Prototypen und präsentierten sie im Plenum.
Danach überarbeiteten die Studierenden die besten Prototypen im virtuellen Raum in Gruppen. Auch das ging auf Distanz erstaunlich gut, sagt Laureiro-Martinez. Jeweils einer pro Gruppe baute an dem Prototyp, die anderen gaben via Videochat Anweisungen. Einige hätten die Prototypen sogar zweigeteilt und parallel an korrespondierenden Teilen gearbeitet.
Alleine im Feld
Für die rund 140 Studierenden der Umweltnaturwissenschaften gehören die Biodiversitäts-Exkursionen zu den Highlights des Basisjahrs. Gemeinsam mit Expertinnen und Experten verlassen sie den Hörsaal, um Arten zu bestimmen und anhand einer Auswahl die biologische Systematik zu verstehen. Im Fokus sind Wald- und Wasservögel, Insekten auf der Wiese und im Wald, Kleintiere in Bach und Weiher, Spinnentiere, Süssgräser, Blütenpflanzen, Bäume, Sträucher oder Pilze.
Dieses Jahr ziehen die Studierenden alleine los. In einem Gebiet ihrer Wahl bestimmen sie beispielsweise Pilze, Bäume oder Tiere. Mit ihrem eigenen Smartphone und einer App erfassen die Studierenden die gefundenen Arten. In virtuellen Daten-Workshops werten sie diese Daten später aus. Die erfassten Standorte zeigen: Die Einzel-Exkursionen erstrecken sich auf Gebiete von Süddeutschland bis ins Tessin.
Corona-Massnahmen anstatt Roboter
Die Bachelorstudierenden Maschinenbau beschäftigen sich im zweiten Semester jeweils mit den sogenannten Innovationsprojekten. Dabei entwickeln sie in einem kleinen Team ein technisches System von der Idee bis zum produzierten und getesteten Produkt. In einem früheren Jahr ging es zum Beispiel darum, einen Feuerwehr-Rettungsroboter zu bauen, der Spielfiguren aus einem Spielhaus retten konnte. Zum Projektende treten die verschiedenen Teams gegeneinander an und müssen ihr System unter Beweis stellen.
«Teamarbeit steht dabei im Vordergrund», sagt ETH-Professor Mirko Meboldt. Normalerweise arbeiten die Studierenden vor Ort eng zusammen. In diesem Jahr suchte Meboldt daher schon früh nach einer alternativen Aufgabe, welche die Studierenden auch auf Distanz mittels Videokonferenz im Team erarbeiten können.
Die Studierenden entwickeln nun Lösungen, mit denen sie und ihre Altersgruppe einen Beitrag leisten können, sich nicht mit dem Virus zu infizieren und es nicht weiterzuverbreiten. «Wir hielten die Aufgabenstellung bewusst offen. Ob es sich um eine Verhaltensempfehlung per Video, eine App oder um ein technisches System handelt, steht offen. Teil der Aufgabe ist es, die Lösung in einer Social-Media-Kampagne bekannt zu machen», sagt Meboldt.
Am 19. und 20. Mai werden die Gruppen ihre Lösungen präsentieren. Darunter werden Ideen sein, wie man Türen berührungslos öffnen oder Desinfektionsmittel in einem praktischen Armband ständig dabeihaben kann. «Im Gegensatz zu früher sind gewisse Lehrziele wie die Konstruktion und Produktion in den Hintergrund geraten», sagt ETH-Professor Meboldt. «Mit der Social-Media-Kampagne bleibt aber der Wettbewerbscharakter. Und ein anderes wichtiges Lehrziel konnten wir sogar noch stärken, nämlich Entscheidungen zu fällen, wenn in einem Projekt nicht alles vorgegeben ist.»