Die Energiewende modellieren
Ein interdisziplinäres Forschungsteam der ETH Zürich entwickelt in einem vom Bundesamt für Energie (BFE) unterstützten Projekt die Modellierungsplattform «Nexus-e». Sie erlaubt es, den Einfluss von technologischen, wirtschaftlichen sowie regulatorischen Entwicklungen auf das Energiesystem der Zukunft zu analysieren.
Das Energiesystem der Schweiz wird sich in den kommenden Jahren grundlegend verändern. Mit dem 2018 in Kraft getretenen Energiegesetz stimmten die Bürgerinnen und Bürger dafür, aus der Kernenergie auszusteigen und Strom mehr dezentral aus erneuerbaren Energien zu erzeugen. 2019 beschloss der Bundesrat zudem, dass die Schweiz bis 2050 ihre Treibhausgasemissionen auf netto null absenken soll.
Eine wichtige Rolle wird dabei die Photovoltaik spielen. Fest steht zudem, dass dieser Wandel flexible Technologien braucht, die Energie effizient umwandeln, speichern und bei Bedarf rasch bereitstellen können – und das in Zeitskalen von saisonal bis stündlich. Im Detail ist jedoch vieles noch unklar, wie die ambitionierten Ziele genau erreicht werden sollen.
Das führt zu offenen Fragen in Politik, Industrie und Gesellschaft. Was sind geeignete Politikmassnahmen, um den Übergang von der Kernenergie zu den Erneuerbaren reibungslos zu gestalten? Welche flexiblen Technologien können die schwankende Stromproduktion etwa der Photovoltaik am besten ausbalancieren – Pumpspeicher, Staudämme, Batteriespeicher, Wasserstoff aus Solarstrom oder flexible Konsumierende? Wie bringt man Wirtschaft und Gesellschaft dazu, in Technologien für diesen Wandel zu investieren? Und wie lassen sich systemische Risiken in der zukünftigen Energieinfrastruktur minimieren?
Lösungen für ein komplexes System
Um solche Fragen zu beantworten und Verständnis für mögliche Wege zur Klimaneutralität zu finden, können Computermodelle eine grosse Hilfe sein. Am Energy Science Center der ETH Zürich entwickelt daher eine interdisziplinäre Forschungsgruppe die Plattform «Nexus-e», mit der sich Energiesysteme modellieren lassen. Ende 2020 wurde die erste Version von Nexus-e fertiggestellt. Das Pilot- und Demonstrationsprojekt wurde durch das Schweizer Bundesamt für Energie (BFE) und beteiligte ETH-Professuren kofinanziert.
Das gemeinsame Ziel des Projektes: Ein geeignetes Werkzeug zu entwickeln, welches das komplexe Schweizer Stromsystem ganzheitlich abbildet. Damit wird es insbesondere möglich, die Rollen zentraler und dezentraler Technologien sowie wirtschaftliche und politische Faktoren in einem zukünftigen Elektrizitätsnetz mit steigendem Flexibilitätsbedarf zu bewerten.
«Um Lösungen für die Zukunft zu finden, braucht es mehr Flexibilität. Mit Nexus-e wollen wir eine Plattform bereitstellen, mit welcher wir verschiedene Szenarien modellieren und so die Transformation des Energiesektors in den nächsten Jahrzehnten erleichtern können», sagt Marius Schwarz, Projektmanager von Nexus-e.
Werkzeugkasten für die Energiewende
Da die Energiewirtschaft sehr komplex ist, gab es bisher nur wenige Versuche, die Wechselwirkungen zwischen einzelnen Komponenten systemweit zu modellieren. Nexus-e will diese Lücke schliessen. «Das entscheidende Merkmal ist die transparente Plattform-Architektur. Sie erlaubt es, Komponenten des Energiesystems in Form von Modulen über klar definierte Schnittstellen auf einfache Weise miteinander zu verbinden», erklärt Schwarz.
Konkret kombiniert die Plattform derzeit fünf Energiemodelle, die Wissen und Methoden aus verschiedenen Disziplinen wie Elektrotechnik und Makroökonomie zusammenbringen. Diese fünf Module repräsentieren die Schweizer Gesamtwirtschaft und den Strommarkt, Investitionen in dezentrale und zentrale Energieanlagen, die Netzsicherheit und den Netzausbau. Der modulare Ansatz ermöglicht es, das Energiesystem und das Zusammenspiel seiner Komponenten viel umfangreicher abzubilden als herkömmliche, isolierte Simulationen von Teilsystemen.
Illustrative Test-Szenarien
Um das Potenzial von Nexus-e zu veranschaulichen, haben die Forschenden im Rahmen der ersten Projektphase drei Test-Szenarien für die Transformation des Schweizer Stromsystems bis 2050 durchgerechnet. Die Simulationen deuten darauf hin, dass der Ausstieg aus der Kernenergie vor allem mit erheblichen Investitionen in neue Photovoltaik-Anlagen ermöglicht werden könnte. Windenergie hingegen könnte nur dann eine Rolle spielen, wenn die Kosten erheblich gesenkt würden. Mit der Wasserkraft befindet sich die Schweiz zudem in einer guten Ausgangssituation, um die tägliche aber auch saisonal schwankende Stromproduktion der Photovoltaik auszubalancieren.
«Da die zugrundeliegenden Annahmen noch mit erheblichen Unsicherheiten behaftet sind, haben diese Test-Resultate primär illustrativen Charakter und sollten nicht als offizielle Prognosen verstanden werden», betont Schwarz.
Katalysator für interdisziplinäre Forschung
Darüber dient Nexus-e als Modellierungsinfrastruktur, die kontinuierlich in Forschung und Lehre zum Einsatz kommt. Christian Schaffner, Leiter des Energy Science Centers, sagt: «Die Nexus-e-Plattform ermöglicht es den Studierenden und Forschenden, komplexe Fragestellungen und neue Phänomene effizienter zu untersuchen.» So lässt sich detailliert und niederschwellig studieren, wie sich Teilaspekten im Gesamtsystem verhalten.
Auf diese Weise vereinfacht die zentrale Modellierungsplattform die fachübergreifende Forschung innerhalb der Hochschule. Bereits dient Nexus-e in mehreren ETH-Projekten als Grundlage und wird so jeweils gezielt weiterentwickelt. Ein Beispiel ist das Forschungsprojekt CH2040, in dem das Nexus-e-Team zusammen mit Anthony Patt's Gruppe Klimaschutz und -anpassung untersucht, inwiefern eine Dekarbonisierung der Schweiz bis 2040 technisch und finanziell machbar ist.
Eine weitere Kooperation mit Marco Mazzotti’s Separation Processes Laboratory verwendet Nexus-e, um zu bewerten, in wie fern Energie aus Biomasse kombiniert mit CO2-Abscheidung und -speicherung Emissionen senken könnte und was das für das Schweizer Energiesystem ökonomisch und ökologisch bedeuten würde.
Detlef Günter, Vizepräsident für Forschung an der ETH Zürich, ist sehr erfreut angesichts der intensivierten Zusammenarbeit zwischen Professuren und Departementen: «Nexus-e zeigt sehr eindrücklich, was Interdisziplinarität zu leisten vermag. Ich bin davon überzeugt, dass nur die fachübergreifende Zusammenarbeit gerade bei Herausforderungen wie der Energiewende gute und realisierbare Lösungen hervorbringen wird.»
Als praxisnahe Testumgebung etablieren
Laut Schaffner und Schwarz soll die neue Modellierungsplattform aber auch von Interessierten ausserhalb der Hochschule genutzt und weiterentwickelt werden. Ihre Vision ist, dass Nexus-e als allgemein akzeptierte, praxisnahe Testumgebung dient. «Wir sind daher offen für neue Kooperationen im akademischen Bereich, aber auch mit politischen Entscheidungsträgerinnen oder Vertretern der Industrie, die Nexus-e nutzen möchten», sagt ESC-Leiter Schaffner.
Deshalb ist man bei Nexus-e bestrebt, den Zugang zur Plattform möglichst einfach und effizient zu gestalten. Bereits konnte das Team die Simulationslaufzeit von Tagen auf wenige Stunden reduzieren. In einem nächsten Schritt ist geplant, die Plattform vollständig zu öffnen und externe Nutzerinnen und Entwickler bei der Arbeit mit Nexus-e zu unterstützen.
Nexus-e und die «Energieperspektiven 2050+»
Die Szenarien im Nexus-e Bericht fokussieren auf das Elektrizitätssystem und dessen Entwicklung unter heutigen gesetzlichen Rahmenbedingungen und technologisch-ökonomischen Annahmen für die Zukunft. Die Energieperspektiven 2050+ des Bundesamts für Energie (BFE) hingegen betrachten das gesamte Energiesystem der Schweiz und sind auf das Erreichen des Netto-Null-Emissionen-Ziels im Jahr 2050 ausgerichtet. Daher können die Szenarien in Nexus-e nur bedingt mit den Resultaten der Energieperspektiven 2050+ verglichen werden.
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