Funktionelle Veränderungen auf Proteom-Ebene aufspüren
ETH-Forschende haben bestehende Proteomik-Ansätze massiv verbessert, um Funktionsänderungen von Proteinen vollumfänglich messen zu können. Damit rücken solche Signaturen als diagnostische Werkzeuge in Griffnähe.
Proteine sind in biologischen Zellen allgegenwärtig. Sie sind die Bausteine des Lebens und üben unzählige wichtige Funktionen aus. Zu jedem beliebigen Zeitpunkt liegen in einer menschlichen Zelle tausende verschiedene Proteine vor, und von jeder Proteinart wiederum sind oft hunderte oder tausende Kopien gleichzeitig vorhanden.
In den vergangenen Jahren ist es Forschenden gelungen, diese enorme Vielfalt mit Messgeräten vollumfänglich zu erfassen. Heute kann buchstäblich auf einen Schlag in Zellen, Organen oder gar Organismen das gesamte Proteom, also alle Proteinspezies und deren Mengen, erhoben werden. Auch lässt sich mit diesen klassischen Proteomik-Ansätzen ermitteln, wie sich die Mengen jeder einzelnen Proteinspezies entwickeln, wenn sich die Umweltbedingungen ändern.
Viele molekulare Ereignisse verpasst
Aber etwas erfassten die klassischen Proteom-Screens bislang nicht: die vielen molekularen Ereignisse, die in Zellen gleichzeitig ablaufen, und zu Funktionsänderungen von Proteinen führen.
Zu diesen Ereignissen zählen etwa chemische Veränderungen an den Proteinen selbst, wie etwa Phosphorylierungen, sowie Interaktionen mit weiteren Proteinen oder anderen Molekülen. Dabei sind solche molekularen Ereignisse wichtig: Viele Prozesse in Zellen wie Signalkaskaden beruhen oft ausschliesslich auf verschiedenen molekularen Ereignissen und nicht auf Anpassung der Proteinmengen. Dadurch kann sich eine Zelle mit dem gleichen Satz an Proteinmolekülen sehr schnell an neue Umstände anpassen, ohne dass sie neue herstellen muss.
Funktionsänderungen werden messbar
Forschende um Paola Picotti, Professorin für Molekulare Systembiologie der ETH Zürich, vermuteten deshalb, dass sie Strukturveränderungen auslesen können für verschiedenste molekulare Ereignisse, die zu Funktionsänderungen von Proteinen führen.
Die Systembiologinnen entwickelten einen bestehenden Ansatz für die Erfassung von Proteomen weiter, um solche funktionellen Veränderungen von Proteinen gleichzeitig bis ins Detail aufspüren zu können.
Das ist ihnen nun gelungen, wie sie in kürzlich in der Fachzeitschrift «Cell» berichteten. Mit dem neuen Vorgehen können die Forschenden nun viele Enzymaktivitäten, molekulare Interaktionen und chemische Veränderungen in situ, also direkt in Zellflüssigkeiten messen.
Abdeckung massiv erhöht
Als Stellvertreter für molekulare Vorkommnisse messen die Forschenden die in einer Probe vorliegenden Proteinstrukturen. Gleichzeitig messen sie auch deren Mengen. «Wir erfassen so die Mehrzahl der Ereignisse, welche die Proteinfunktion beeinflussen. Das erhöht die Abdeckung drastisch», betont Picotti.
«Wir können nun eine viel höhere Zahl an veränderten biologischen Prozessen erfassen als durch die alleinige Messung von Proteinhäufigkeiten»Paola Picotti
Die Grundlage der neuen Methode hat die ETH-Professorin bereits vor ein paar Jahren gelegt. Mit einer Technik namens Limited Proteolysis Mass Spectrometry (LiP-MS) gelang es ihr und ihren Mitarbeitenden, relativ einfach die Mehrzahl der Proteine in einer biologischen Probe wie dem Zellsaft von Hefezellen oder Körperflüssigkeiten aus Biopsien zu messen. Damit schaffte sie es auch, unterschiedliche Strukturen von ein und demselben Protein zu erfassen.
Proteine besser als Biomarker nutzbar
Um den neuen LiP-MS-Ansatz zu testen, haben Picotti und ihre Mitarbeitenden drei gut bekannte Systeme unter die Lupe genommen. Dabei zeigte sich, dass sie mit der Methode nicht nur alle bekannten funktionellen Veränderungen erfassen, sondern auch bisher unbekannte Ereignisse aufdecken. «Somit können wir nun eine viel höhere Zahl an veränderten biologischen Prozessen erfassen als durch die alleinige Messung von Proteinhäufigkeiten», sagt Picotti. Das ist ein wichtiger Schritt, um Proteine, ihre veränderten Strukturen und Funktionen künftig als valable Biomarker besser nutzbar zu machen.
Ihr Konzept überprüft haben die Forschenden unter anderem an Hefezellen, indem sie diese einem Salzstress aussetzen. Nach kurzer Zeit setzten die Zellen einen speziellen Signalweg in Gang, um mit der erhöhten Salzkonzentration in ihrer Umgebung fertig zu werden. Wenn dieser Signalweg aktiviert wird, werden einigen Proteinen Phosphate «angehängt», sogenannt phosphoryliert, andere interagieren mit weiteren Molekülen, und einige ändern ihre Aktivität. Das führte dazu, dass die Enzyme ihre Struktur änderten – und damit auch ihre Funktion.
Die ETH-Forscherinnen fanden, dass von den total 3500 in Hefen vorhandenen verschiedenen Proteinarten bei diesem Versuch über 300 ihre Form änderten. Bei nur deren 30 veränderte sich die Häufigkeit. «Das bedeutet, dass Zellen auf kurzanhaltende neue Reize oder akuten Stress hin nicht sonderlich viele Proteine produziert, sondern dass sie bestehende umformen und ihre Funktionen modifizieren.»
Ist der Stress überstanden, lassen sich die umgeformten Moleküle in den Originalzustand zurückversetzen. Dadurch bleibt die Anzahl der Proteine in Zellen über die Zeit ziemlich konstant. Für die Zelle ist das ein Vorteil: Neue Moleküle zu produzieren, braucht viel Zeit und Energie. Das Umformen geschieht hingegen mit geringem Energieaufwand in Sekundenschnelle.
Vielversprechendes Diagnosewerkzeug
In einem Projekt hat Picotti die Methode bereits auch bei einer menschlichen Krankheit getestet. So hat sie und ihre Mitarbeitenden mehrere hundert Proben von Parkinson-Patienten mit solchen von gesunden Menschen verglichen, um strukturelle Biomarker für die Krankheit zu finden.
Vorläufiges Fazit: «Die Menge an Proteinen allein ist in diesem Fall nicht diagnostisch nutzbar», sagt Picotti. Die Mehrheit der Proteine war sowohl in gesunden wie in erkrankten Menschen etwa gleich häufig. Suchten die Forschenden jedoch nach unterschiedlichen Strukturen desselben Proteins, sah die Sache vielversprechender aus. Eine Vielzahl von Proteinen zeigte in den Patientenproben veränderte Strukturen. Dadurch ist der Ansatz als diagnostisches Werkzeug vielversprechend. Ob es auch der Früherkennung dienen könnte, muss aber erst noch erforscht werden.
ETH-Spin-off bietet Methode kommerziell an
Die Forschenden haben den Ansatz bereits patentieren lassen. Das auf Proteomik spezialisierte ETH-Spin-off Biognosys hat die Methode lizenziert und bietet sie erfolgreich kommerziell an, um Proben für die Medikamentenentwicklung auf Proteinstrukturänderungen zu analysieren. Auch in der akademischen Welt stösst der neue Ansatz auf grosses Interesse. «Ich erhalte wöchentlich mehrere Anfragen von auswärtigen Forschenden, ob mein Labor Proben für sie untersuchen könne. Wir können jedoch nicht all diese Wünsche erfüllen, da wir nicht die Kapazitäten dafür haben», erklärt Picotti.
Literaturhinweis
Cappelletti V et al.: Dynamic 3D proteomes reveal protein functional alterations at high resolution in situ. Cell, 21. Januar 2021. doi: externe Seite 10.1016/j.cell.2020.12.021