Landwirtschaft – gestern, heute und morgen brandaktuell

1871 wurde an der ETH Zürich die Abteilung Landwirtschaft gegründet. Ein Blick auf die 150-jährige Geschichte zeigt, warum das Fach bis heute so bedeutend geblieben ist.

Bis weit ins 19. Jahrhundert war die Schweiz ein Agrarstaat. Die Landwirtschaft war aufgrund ihres Anteils am Bruttosozialprodukt der mit Abstand wichtigste wirtschaftliche Sektor. Über 80 Prozent der Bevölkerung waren in der Landwirtschaft tätig. Doch mit der zunehmenden Industrialisierung und dem Wandel zu einer Dienstleistungsgesellschaft musste sich auch die Landwirtschaft weiterentwickeln. Während im Ausland, besonders in Deutschland, die Agrarwissenschaften schon ihren festen Platz an den Universitäten hatten, wurde in der Schweiz vor allem Erfahrungswissen vermittelt – systematische Forschung im Agrarbereich fehlte. Das änderte sich, als das Parlament sprachlich leicht holprig das «Bundesgesez betreffend Erweiterung der Forstschule des eidgenössischen Polytechnikums zu einer land- und forstwirthschaftlichen Schule» beschliesst und 1871 – also vor 150 Jahren – die Abteilung Landwirtschaft an der ETH Zürich gegründet wurde.

Hervorragendes Betreuungsverhältnis und knappe Finanzen

Erster Professor für Acker- und Pflanzenbau, Anton Nowacki
Erster Professor für Acker- und Pflanzenbau, Anton Nowacki, ca 1886 (Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv / Ludwig Zipfel)

Bald wurden die ersten drei Professoren berufen: Adolf Kraemer für Viehzucht, Anton Nowacki erhielt die erste Professur für Acker- und Pflanzenbau und Kraemers späterer Schwiegersohn Ernst Schulze war Agrochemiker. Notabene alles Männer und alles Ausländer – Frauen und Schweizer waren damals für diese Positionen schlicht nicht zu finden. Doch das Betreuungsverhältnis der Studierenden war fantastisch: Die drei Professoren hatten gerade mal fünf Studenten zu betreuen. Bis 1875 waren insgesamt nur 37 Personen für das Studium eingeschrieben. Bald stiess die erste Frau hinzu: Maria Kovalik. Nach sieben Semestern schloss die gebürtige Russin ihr Landwirtschaftsstudium 1877 erfolgreich ab, womit sie als erste Frau überhaupt am Polytechnikum ein Diplom erlangte. Als erste Schweizerin diplomierte Lilly Leuthold 1925 in Agrarwissenschaften. Und es sollte nochmals 67 Jahre dauern, bis mit Silvia Dorn 1992 eine ordentliche Professorin für die Agrar- und Lebensmittelwissenschaften der ETH Zürich gewählt wurde.  

Doch grosse Sprünge konnten die ersten Agrarwissenschaftler der ETH nicht machen. Die landwirtschaftliche Abteilung bekam zwar 12 Prozent der damaligen Budgetmittel der ETH zugesprochen – was im Jahr 1871 gerade mal um 35'000 Schweizer Franken waren. Ein wichtiger Meilenstein, um Forschung in den Agrarwissenschaften voranzutreiben, war das Recht, die Doktorwürde zu verleihen. Dieses Recht erhielt die ETH im Jahr 1909. Die erste Agrardissertation von 1913 zum Thema «Physikalische Eigenschaften des Pferdehufhorns» ging deshalb in die Geschichte ein. Emmanuel Frossard, seit 1994 Professor für Pflanzenernährung an der ETH zu den Anfängen der landwirtschaftlichen Forschung: «Diese war immer kreativ und auf einem exzellenten Niveau. So ist es auch gelungen, Nachwuchs auszubilden, der Generationen prägte.»

Vielfalt der Disziplinen

Nach einem etwas zögerlichen Start nahm das Fachgebiet rasch an Fahrt auf. Dabei veränderte sich immer wieder die Struktur der ehemaligen Abteilung für Landwirtschaft. Michael Kreuzer, Professor für Tierernährung, ist zusammen mit Emmanuel Frossard am längsten am Institut für Agrarwissenschaften beschäftigt. Er weist darauf hin, wie wichtig es war, die Nutztier- und Pflanzenwissenschaften im Jahr 2010 in einem Institut zusammenzulegen. 2012 wurde schliesslich das Departement Agrar- und Lebensmittelwissenschaft aufgeteilt und die Agrarwissenschaften wurden im neuen Departement für Umweltsystemwissenschaften integriert – ein wichtiger Schritt, die Agrarwissenschaften als systemische Wissenschaft zu verstehen.

Heute umfasst das Institut für Agrarwissenschaften zwölf Professuren. Acht weitere aus anderen Departementen sind assoziiert. Pflanzen- und Nutztierwissenschaften bleiben zentral, aber Agrarökonomie, nachhaltige Agrarökosysteme oder computergestützte Ökosystemwissenschaften gehören heute ebenfalls dazu.

«Die Agrarwissenschaften sind nicht eine Disziplin, sondern eine Reihe von Disziplinen. Früher ging es darum, eine ausreichende landwirtschaftliche Produktion zu gewährleisten, heute möchten wir eine multifunktionale Landwirtschaft weiterentwickeln, welche die Umwelt schont», erklärt Frossard. Das Studium ist – nach einer Baisse anfangs der 2000er Jahre – wieder beliebt: Rund 70 Studierende beginnen jedes Jahr den Bachelor in Agrarwissenschaften, die Hälfte davon sind Frauen.

Landwirtschaft – eine emotionale Angelegenheit

Obwohl die Schweiz heute kein Agrarstaat mehr ist, bleibt die Landwirtschaft und damit auch die Agrarwissenschaften an der ETH ein emotionales Thema. Das zeigt sich in diversen Episoden aus der jüngeren Geschichte. 2002 präsentierte die ETH in der Sonderschau «Expoagricole» der Expo in Murten die Kulturpflanze Mais – das Interesse der Bevölkerung war riesig. Ebenso ist der Besucherandrang an Infotagen zum Beispiel in der Forschungsanstalt AgroVet-Strickhof ungebrochen.

Drohnen am Agritechday 2019
Der Agritechday 2019 zog viele Besucherinnen und Besucher an, die sich über die neusten Entwicklungen in der Landwirtschaft informierten. (Bild: ETH Zürich / A. Della Bella)

Doch die Agrarwissenschaften führen auch zu Kontroversen: 2014 führt eine ETH-Studie über Kuhglocken nicht nur länderübergreifend für viel Aufregung, sondern auch zu einer kritischen Motion im Parlament. 2016 wird ein Pflanzenzüchtungs-Kongress im ETH-Hauptgebäude von einer Protestaktion gestört. Mehrere anonym auftretende Personen drangen ins Audimax ein und warfen mit Kuhmist um sich.

Schweizer Forschung strahlt international aus 

Der besondere Stellenwert der Landwirtschaft in der Schweiz ist unbestritten, doch die Agrarwissenschaften an der ETH finden auch weit über die Landesgrenzen hinaus viel Anerkennung. Im internationalen QS World University Ranking belegen die Agrar- und Forstwirtschaften der ETH aktuell den 6. Platz. Immer wieder machte die ETH mit Forschung auf sich aufmerksam. ETH-Alumnus Hans Rudolf Herren gilt als Pionier in der biologischen Schädlingsbekämpfung. In den 1980er Jahren bekämpfte er in Afrika erfolgreich Schmierläuse, die das Grundnahrungsmittel Maniok bedrohten. Er wurde dafür mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem «Alternativen Nobelpreis». 1993 starteten ETH-Agrarwissenschaftler das weltweit erste Freiland-CO2-Begasungsexperiment im Grasland, das die Auswirkungen erhöhter atmosphärischer CO2-Konzentration untersuchte – aus heutiger Sicht geradezu visionär. Im 21. Jahrhundert gelingt es ETH-Pflanzenpathologe Cesare Gessler Apfelsorten gegen Schorf und Feuerbrand resistent zu machen, indem er die sogenannte Cis-Gentechnik verwendet.

Verschiedene Apfelbäume
Apfelbäumchen, die mit cis-Gentechnik gegen die Pflanzenkrankheit Feuerbrand resistent gemacht wurden. (Bild: ETH Zürich)

Und wie sieht die Zukunft aus?

Die Agrarwissenschaften an der ETH sind eine Kombination aus Grundlagenforschung und angewandter Forschung, die stets nahe an aktuellen Fragestellungen ist. Das systemische Denken wird die Zukunft der Agrarwissenschaften weiter prägen, davon ist Michael Kreuzer überzeugt: «Wir müssen uns noch mehr damit auseinandersetzen, welche Aspekte nur interessant und welche wirklich für das ganze System relevant sind». Der Klimawandel wird ein zentrales Thema bleiben: Wie lässt sich der Methanausstoss von Nutztieren verringern? Welche Aspekte sind bei der Züchtung von trockenheitstoleranten Pflanzen zu berücksichtigen? Zudem durchdringt mittlerweile die Digitalisierung auch die Landwirtschaft und wird in Zukunft noch wichtiger werden. Bereits heute wird an der ETH intensiv an «Smart Farming» geforscht. Roboter bekämpfen gezielt Unkraut, um Pestizide einzusparen. KI könnte schon bald das lästige, aber notwendige Ährenauszählen von Hand ersetzen. Eine logische Folge ist, dass die neueste Professur am Institut eine für Umweltrobotik ist.

Auch die Lehre wird laufend an die zukünftigen Herausforderungen angepasst. So sollen aktuelle Spannungsfelder und offene Fragen der Landwirtschaft vermehrt in die Ausbildung einfliessen: Wie ist das Verhältnis zwischen biologischer und konventioneller Landwirtschaft oder zwischen der ökonomisierten Logik von Wertschöpfungsketten und den Bedürfnissen natürlicher Ökosysteme? Eins ist klar: Die Agrarwissenschaften an der ETH sind gut gerüstet, um auch die zentralen Fragen der nächsten 150 Jahre beantworten zu können.  

Jätroboter «Rowesys»
Der von Maschinenbau-Studierenden entwickelte Jätroboter «Rowesys»: Die Agrarforschung setzt zunehmend auf Robotik und Künstliche Intelligenz, um aktuelle Probleme anzugehen. (Bild: Immanuel Denker)

Jubiläum Agrarwissenschaften

Das Departement Umweltsystemwissenschaften (D-USYS) startet das Jubiläumsjahr mit einem Online-Event am 4. Mai 2021. Zum Auftakt werden Bundespräsident Guy Parmelin zusammen mit ETH-Präsident Joël Mesot und Vertreterinnen und Vertretern des Instituts in einem Video auftreten. Im Anschluss an die Premiere dieses Jubiläumsfilms finden auf den virtuellen Bühnen verschiedene kurze Webinare zu den wichtigen Themen in den Agrarwissenschaften in verschiedenen Sprachen statt. Danach lädt das Institut für Agrarwissenschaften zu einem ganz besonderen virtuellen Apéro ein. Die Teilnahme am Event ist kostenlos – eine Registrierung ist nicht notwendig.

Auf der Jubiläumswebseite finden Sie eine Timeline mit historischen Fakten und ausgewählten Artikeln aus den vergangenen 150 Jahren.

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