Bahnschotter im Bachtobel
In der Schweiz gibt es vielleicht bald einen Mangel an Hartschotter. Die Suche nach neuen Quellen führt die ETH-Geologen in weit abgelegene Gebiete.
Nach einem steilen Abstieg durch den Wald sind wir beim Fluss. Nahe beim wilden Chessiloch im hinteren Entlebuch stehen wir mitten im Feldgebiet von Maira Coray. Die Geologiestudentin der ETH Zürich nimmt in diesem Bachbett für ihre Bachelorarbeit ein Profil der Gesteinsabfolge auf und wird über eine Distanz von einigen hundert Metern alle Schichten im Detail erfassen. Maira ist heute zum dritten Mal hier. Sie wird von ihren Betreuern Lukas Nibourel und Stefan Heuberger von der Fachgruppe Georessourcen Schweiz am Departement Erdwissenschaften begleitet. Auch Stephan Wohlwend, wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Gruppe Klimageologie, der Maira bei der Auswertung der Proben berät, ist mitgekommen. Die drei erfahrenen Geologen unterstützen sie nicht nur fachlich, sondern helfen ihr heute auch, Proben für die Laboranalysen zu sammeln.
Für Maira ist die Arbeit der erste Schritt in die eigenständige geologische Tätigkeit. Sie lernt in dieser Arbeit, wie man im Gelände Gesteine untersucht und Messungen dokumentiert. Dabei merkt sie schnell: Die Aufnahme eines Profils in der Theorie und die praktische Feldarbeit sind zwei Paar Schuhe.
Hoher Bedarf
Dass Lukas und Stefan Maira für diese Arbeit in dieses unwegsame Tobel schicken, hat einen handfesten Grund: Der Schweiz droht in den nächsten Jahren ein Engpass bei der Versorgung mit Hartschottern, jenen Gesteinen also, die den Gleisen der Eisenbahnen den notwendigen Halt geben. Obwohl die Schweiz viele harte Gesteine hat, erfüllen nur wenige die strengen Anforderungen. Hartschotter muss nicht nur hart und witterungsbeständig sein, er sollte auch unregelmässig, kantig brechen, damit sich die Steine im Gleisbett gut ineinander verkeilen. Ein Granit aus dem Aarmassiv erfüllt diese Kriterien nicht, Jurakalk auch nicht und die plattigen Gneise aus der Südschweiz schon gar nicht. Dabei ist der Bedarf hoch: Etwa alle dreissig Jahre wird der Bahnschotter erneuert, nach einem ausgeklügelten Schema, damit der dichte Fahrplan der Züge nicht aus den Fugen gerät. Ein grosser Teil des alten Schotters kann nochmals verwendet werden; der Rest findet zum Teil als Splitt für den Strassenbau weitere Verwendung. Ohne neue Gesteine wird es also schwierig. Doch an den heute bekannten Standorten lassen sich diese nicht in beliebigen Mengen gewinnen. Denn der Abbau kollidiert an vielen Orten mit anderen Interessen. Landschafts- und Naturschutz schränken die abbaubaren Mengen ein, auch der Siedlungsbau oder touristische Nutzungen – ein Problem, das sich übrigens auch beim Abbau von Kies und Zementrohstoffen stellt.
Hier beim Chessiloch wollen die Geologen eine Gesteinsformation untersuchen, die bisher noch nicht genutzt wird. «Die meisten Hartschotter stammen aus Kieselkalk», erklärt Lukas. «Doch vielleicht eignet sich dafür auch der Hohgant-Sandstein, den wir hier im Bachbett antreffen.» Dass in diesem Tobel dereinst ein Steinbruch stehen wird, daran ist allerdings nicht zu denken: Der Standort im Biosphärenreservat ist geschützt – und abgelegen. Weit und breit keine Strasse und keine Bahngleise, über die das Gestein abtransportiert werden könnte. Dennoch ist just diese Stelle für die Geologen von Interesse: «Hier können wir die gesamte Formation ohne Unterbruch erfassen», erläutert Stefan. «Dadurch sehen wir exemplarisch, in welchen Bereichen sich an anderen Orten, wo dieser Sandstein auch vorkommt, die abbauwürdigen
Zonen befinden.»
Die Mühen der Praxis
Bevor die eigentliche Feldarbeit beginnt, geht es nochmals ein Stück hinunter. Nun stehen wir am Fuss eines etwa zehn Meter hohen Wasserfalls. Der Hohgant-Sandstein bildet an dieser Stelle eine mächtige, leicht überhängende Felsbank. Maira zückt ihr Tablet und macht sich ein paar Notizen. Das Gerät nutzt sie auch, um die Ausrichtung der Gesteine zu messen. Die Messdaten zeichnet sie gleich auf der hinterlegten Karte ein. «Für gewisse Notizen ist das herkömmliche Feldbuch aber immer noch besser», erklärt sie. Stefan und Lukas machen sich derweil an die Arbeit: Mit grossen Hämmern dreschen sie auf den harten Fels ein, um Probestücke zu gewinnen. Eigentlich würde Maira gerne auch aus den höheren Bereichen der Felsbank eine Probe nehmen. Aber selbst für die Geologen, die sich flink durch das unwegsame Gelände bewegen, hängen diese Früchte zu hoch. Inzwischen kommt Stephan von unten hochgekraxelt. «Dort gibt es grosse Fossilien», erzählt er mit Freude. «Aber ich bin nicht sicher, ob ich die Basis gefunden habe.»
Tatsächlich ist den Forschern noch nicht ganz klar, wo sich die Grenze zur darunterliegenden Gesteinsschicht befindet. Wir machen uns auf den Weg, kämpfen uns nochmals durch unwegsames Gelände. Der Bach hat an dieser Stelle die harten Gesteine glatt poliert, die grossen Fossilien, die Stephan entdeckt hat, sind nun gut zu erkennen. «Hier könnte die Grenze sein», sinniert er mit Maira. Oder vielleicht doch nicht?
Ein Stück weiter unten werden wir fündig: Gleich bei der nächsten Felstreppe entdeckt Lukas die Grenze zwischen den braunen sandigen Gesteinen, zu denen auch der Hohgant-Sandstein gehört, und dem hellgrauen Schrattenkalk. Ein kleines Band von ein, zwei Zentimetern markiert den Übergang. «Hier fehlen bis 80 Millionen Jahre», meint Lukas lachend. «Der Schrattenkalk wurde vor etwa 125 Millionen Jahren abgelagert, die darüberliegenden sandigen Gesteine vor rund 45 Millionen Jahren.» Die Stelle, wo heute der rauschende Bach vorbeizieht, befand sich vor 45 Millionen Jahren also bereits einmal an der Erdoberfläche, bevor sie vom Meer überflutet wurde. Aus dem Hinterland führten derweil die Flüsse grosse Mengen an Quarzsand her, aus dem später der Hohgant-Sandstein entstand. Doch von woher kam dieser Sand? Vom nahe gelegenen Aarmassiv wohl kaum, denn dieses war damals noch von kalkhaltigen Sedimenten bedeckt. Vielleicht aus dem Schwarzwald? Doch bei einer so grossen Distanz müssten die kantigen Körner im Sandstein stärker abgerundet sein.
Im Auftrag von swisstopo
Eigentlich wäre das eine spannende Forschungsfrage. Doch der Projektauftrag lässt kaum Spielraum, ihr nachzugehen, wie Lukas erklärt, der als Projektleiter die Fäden zusammenhält. «Das Bundesamt für Landestopografie swisstopo, das uns den Auftrag für diese Studie gab, ist im Rahmen dieses Projekts primär daran interessiert, wo es potenziell abbaubare Hartschotter gibt.» Eigentlich würde man erwarten, dass man in einem gut untersuchten Land wie der Schweiz inzwischen genau weiss, wo wie viel dieser besonders harten Gesteine abgebaut werden kann. Doch die vorliegenden Daten sind teilweise lückenhaft. Angesichts der drohenden Knappheit gab die Landestopografie deshalb der Fachgruppe Georessourcen Schweiz den Auftrag, alle potenziellen Vorkommen systematisch zu erfassen.
In der Mittagspause erklärt Stefan die besondere Stellung der Fachgruppe, die er seit rund vier Jahren leitet. Diese wurde 2018 als Nachfolgerin der früheren Schweizerischen Geotechnischen Kommission ins Leben gerufen, die bereits seit Jahrzehnten an der ETH Zürich ihre Geschäftsstelle hatte. «Wir bekommen eine Grundfinanzierung von der swisstopo und der ETH Zürich, müssen einen Teil des Budgets aber durch Aufträge selber organisieren», erklärt Stefan. Die Gruppe friste eher ein Nischendasein: «Die Schweizer Geologie steht für die akademische Forschung an der ETH nicht mehr im Vordergrund», bedauert Stefan. «Dennoch ist es wichtig, dass dieser Bereich weiterhin gepflegt wird.» Die Fachgruppe führt nicht nur Projekte für Bundesämter und Fachstellen durch, sondern beteiligt sich mit Lehrveranstaltungen und Exkursionen auch an der Ausbildung der Studierenden. «Maira ist unsere erste Bachelorstudentin», hält Stefan fest. «Es ist nicht ganz einfach, passende Untersuchungsgebiete zu finden. Denn die Studierenden haben nur wenig Zeit für diese Arbeit und wenn das Wetter so wie in diesem Frühjahr nicht mitspielt, wird es schnell einmal eng.»
Schwere Fracht
Beim Wiederaufstieg kehren wir zum Ausgangspunkt zurück. Hier, im mittleren Bereich des Profils, möchte Maira ebenfalls Proben entnehmen, auch wenn der Hohgant-Sandstein in diesem Bereich sich für einen Abbau sicher nicht eignen würde. Er besteht nun nur noch aus dünnen Bänken, die von tonigen Lagen unterbrochen werden. Während Stefan und Lukas sich wieder ans Hämmern machen, packt Maira einen Rückprallhammer aus dem Rucksack. Mit diesem Gerät wird üblicherweise der Zustand von Beton überprüft, aber man kann damit auch die Härte von Gesteinen im Feld bestimmen. Rund zehn Messungen in je zwei Richtungen muss Maira an verschiedenen Orten machen, damit sie ein einigermassen zuverlässiges Bild bekommt.
Nachdem Stefan und Lukas die neuen Proben im Rucksack verstaut haben, geht es nochmals zwei Felsstufen weiter nach oben, denn Maira benötigt aus dem obersten Bereich, wo der Hohgant-Sandstein wieder aus dickeren Bänken besteht, auch noch Proben. Auch hier zeigt sich: Es ist im Feld gar nicht so einfach, Messungen vorschriftsgemäss durchzuführen. Denn im Gegensatz zu einer senkrechten Betonwand sind die Oberflächen der Gesteine nicht eben und ohne Weiteres zugänglich. «So sind eben die Bedingungen im Feld», meint Lukas lakonisch.
Etwa zwei Dutzend grosse Steine haben Maira und ihre Betreuer inzwischen eingepackt. Für die Studentin war es ein ergiebiger Tag, ist sie doch mit ihrer Feldarbeit ein gutes Stück weitergekommen. Nun geht es mit der schweren Fracht wieder den Hang hoch zurück zum Wanderweg und von dort zum Auto. Ist der Hohgant-Sandstein nun hart genug für die Bahn? Das lässt sich im Moment noch nicht sagen. Deshalb wird Maira die Proben an der ETH noch weiter untersuchen – unter klar definierten Bedingungen.
Dieser Text ist in der Ausgabe 21/03 des ETH-Magazins Globe erschienen.