«Wir brauchen eine kluge Innovationspolitik»
Wie gelingt die Dekarbonisierung der Wirtschaft bis 2050? Für ETH-Professor Tobias Schmidt führt nichts vorbei an einem tiefgreifenden technologischen Wandel. Über einen, der vom Ingenieur zum Politforscher wurde und Brücken zwischen Wissenschaft und Politik baut.
Als wir Tobias Schmidt in seinem Büro an der Züricher Clausiusstrasse treffen, ist die Klimakonferenz in Glasgow bereits drei Tage im Gang. Schmidt kennt die Mechanik und Dramaturgie dieser Grossereignisse bestens. 2008 nahm er als junger Doktorand selbst das erste Mal daran teil. Über die Jahre hat er einiges gesehen: Grosse Enttäuschungen, wie 2009 bei der gescheiterten Konferenz in Kopenhagen, aber auch Begeisterung wie 2015 in Paris, wo sich die Staats- und Regierungschefs auf eine neue Architektur zur Bekämpfung des Klimawandels einigten.
«Meine Erwartungen an diese Konferenzen sind heute um einiges weniger naiv», erklärt Schmidt. Aus dem Doktoranden von damals ist nicht nur ein ETH-Professor für Energie- und Technologiepolitik geworden, sondern auch ein Realist. Denn das Schicksal des Weltklimas hänge weniger von einzelnen Gipfelergebnissen ab als vielmehr davon, wie ambitioniert die Klimapolitik einzelner Länder in den nächsten Jahren ausfalle. Und dies werde vor allem von einem Faktor beeinflusst: den Kosten von emissionsfreien Technologien für alle wirtschaftlichen Aktivitäten.
«Wenn Klimaschutz günstiger und profitabler wird», so Schmidt, «ist es für Politikerinnen und Politiker, die in kurzfristigen Wahlzyklen denken, einfacher, ambitioniert zu sein.» Damit gehört er zu jenen, die überzeugt sind, nur mit einem tiefgreifenden technologischen Wandel lasse sich die Klimakrise bewältigen. Zu erforschen, unter welchen politischen und finanziellen Rahmenbedingungen dieser Wandel im Energiesektor gelingt, sieht er als seinen Beitrag gegen den Klimawandel.
Frühe Begeisterung für Technik und Umweltthemen
Schmidt wächst als Sohn eines Ingenieurs und einer Materialwissenschaftlerin in einem Dorf südlich von München auf. Die Begeisterung für Technik packt ihn schon in jungen Jahren. Früh entdeckt er die Werkstatt seines Vaters und bastelt darin an eigenen Ideen. Doch seine Eltern legen immer grossen Wert darauf, dass sich ihre Kinder auch kulturell und musikalisch engagieren. Schmidt singt jahrelang im Knabenchor. Bis heute ist er ein begeisterter Sänger.
Als Schüler beginnt er sich für Umweltthemen zu interessieren. Es ist vor allem seine Mutter, die ihn für Nachhaltigkeit sensibilisiert. Im Rahmen seiner Abiturarbeit entwirft der damals 18-Jährige ein Mülltrennungssystem, das seine Schule bis heute nutzt. Als er davon erzählt, spürt man heute noch den Stolz, etwas Nachhaltiges und Sinnvolles geschaffen zu haben.
Nach dem Abitur weiss Schmidt lange nicht, was er studieren soll. Er entscheidet sich schliesslich für ein Studium der Elektrotechnik an der TU München, belegt daneben aber auch Kurse in Ökonomie und Geschichte. Der Drang, den Blick über die Grenzen der eigenen Disziplin hinaus zu werfen, treibt ihn schon damals um.
Vom Ingenieur zum Public-Policy-Forscher
Ein klassisches Ingenieursstudium ist dem damals 26-Jährigen bald zu einseitig. Er will verstehen, warum sich gewisse Technologien im Energiesektor durchsetzen und andere nicht und verfasst eine Diplomarbeit zur wirtschaftlichen Attraktivität von erneuerbaren Technologien in Entwicklungsländern. Als Betreuer kann er Volker Hoffmann gewinnen, der damals schon Professor für Nachhaltigkeit und Technologie an der ETH Zürich ist. Ähnlich wie Schmidt ist Hoffmann ein Ingenieur, der sich interdisziplinär mit Innovationen im Energiesektor beschäftigt.
Schmidt findet Gefallen an dessen Ansatz und entscheidet sich 2008, für ein Doktorat an das Departement für Management, Technologie und Ökonomie (D-MTEC) der ETH zu kommen. Binnen knapp vier Jahren untersucht er die Auswirkungen der internationalen Klimapolitik auf Cleantech-Innovationen. Überrascht muss er feststellen: Die Anreize der ersten Phase des europäischen Emissionshandels führen dazu, dass eher mehr und nicht weniger Kohlekraftwerke in Betrieb genommen werden.
Fortan blickt Schmidt anders auf technologische Veränderungen. Er erkennt, wie wichtig die politischen Rahmenbedingungen für Innovationen sind. Schleichend, aber stetig wird aus dem Ingenieur ein Public-Policy-Forscher.
Ein interdisziplinäres Forschungsprogramm
2015 ist ein Wendepunkt in Schmidts beruflichem Leben. Nach Beratungsaufträgen für das Umwelt- und Klimaprogramm der Vereinten Nationen und einem Forschungsaufenthalt an der Stanford Universität erhält er einen Ruf an die ETH Zürich. «Es war erst die dritte Bewerbung auf eine feste Stelle. Mir war klar: Das ist die Chance meines Lebens», erinnert er sich. Für Schmidt geht ein Traum in Erfüllung: Er kann seine eigene Forschungsgruppe für Energiepolitik aufbauen.
Der frisch gebackene Professor entwirft ein Forschungsprogramm, das auch seinen eigenen Werdegang widerspiegelt und sich Problemen an der Schnittstelle zwischen klimafreundlichen Technologien, dem Finanzsektor und der Politik widmet. Eine Frage steht dabei im Vordergrund: Wie entstehen technologische Innovationen im Energiesektor? Um diese Frage beantworten zu können, so Schmidt, müsse man zunächst die Technologien selbst verstehen, denn ein typisches Innovationsmuster gäbe es im Energiesektor nicht.
«Es hängt von der jeweiligen Technologie ab, ob eher Produkt- oder Prozessinnovationen entscheidend sind», erklärt er. So finden Innovationen bei der Fotovoltaik vor allem dank Verbesserungen im Produktionsprozess statt, da diese zu einer Kostenreduktion führen. Bei Windrädern hingegen sind Produktinnovationen wichtig, da letztlich das bessere Design über den Erfolg im Markt entscheidet. «Eine effiziente Förderung klimafreundlicher Technologien», so Schmidt, «setzt dort an, wo Innovation tatsächlich stattfindet.»
Effektive Klimapolitik ist Innovationspolitik
Sowohl anhand der Solar- und Windenergie als auch der Batterietechnologie zeigt Schmidt, dass eine effiziente Energie- und Klimapolitik ohne kluge Innovations- und Industriepolitik nicht vorstellbar ist. Dazu gehöre zunächst eine umfassende Forschungsförderung für klimarelevante Sektoren. Doch dies allein reicht nicht: «Je komplexer neue Technologien sind, desto wichtiger ist es, dass sie möglichst schnell in Pilotanlagen getestet werden», betont er und fügt hinzu: «Bei sehr teuren, aber vielversprechenden Technologien kommt man an Massnahmen nicht vorbei, die den Markteintritt ermöglichen.»
Wie diese Subventionen am besten ausgestaltet werden, hänge wiederum von der Technologie ab. Die Entwicklung der Fotovoltaik in China veranschauliche dies eindrücklich: «Chinesische Hersteller nutzten günstige Kredite der Regierung, um modernste Produktionsanlagen zu kaufen. Damit erlangten sie die Kostenführerschaft und einen immer grösseren Marktanteil», erklärt der ETH-Professor.
Bei Windturbinen würde diese Strategie nicht funktionieren, da deren Entwicklung komplexes und schwer übertragbares Designwissen voraussetzt, das nur erfahrene Ingenieurinnen und Ingenieure mitbringen. Ausserdem, so Schmidt, müssen Windanlagen unter realen Bedingungen getestet und optimiert werden. Dazu brauche es vor allem Anreize für Akteure, die Windparks bauen und betreiben. Vor diesem Hintergrund sei es nicht weiter überraschend, dass China 20 und nicht wie der Fotovoltaik zwei Jahre gebraucht hat, um auch in der Windenergie zu einem Marktführer zu werden.
Leben im Zeichen des Tenure Tracks
Fünf Jahre hat Schmid nach seinem Ruf an die ETH Zeit, um den Sprung auf eine unbefristete Professur zu schaffen. «Tenure Track», heisst dieser Karrierepfad für Wissenschafterinnen und Wissenschafter, die zum Zeitpunkt der Berufung in der Regel nicht älter als 35 Jahre sein dürfen, im Fachjargon. Für eine erfolgreiche Berufung sind Publikationen das wichtigste Kriterium. Und Schmidt liefert: Zwischen 2015 und 2020 veröffentlicht er 41 Beiträge in renommierten Fachzeitschriften. Die thematische Bandbreite reicht von den Treibern nationaler Klimapolitik über die Finanzierung kohlenstoffarmer Technologien bis hin zu Innovationsprozessen in einzelnen Technologiefeldern.
Wie ist diese Produktivität zu erklären? Natürlich arbeitet Schmidt in dieser Zeit sehr viel und verbringt zahlreiche Samstage im Büro. Doch vielleicht noch wichtiger: Er schafft es, motivierte und kompetente Nachwuchsforscherinnen und -forscher aus unterschiedlichen Disziplinen zu rekrutieren, die gemeinsam mit ihm publizieren. Und ihm kommt zugute, dass eine Reihe neuer Zeitschriften auf den Markt kommen, die thematisch sehr gut zu seinen Themen passen und schnell an Relevanz gewinnen.
Als Schmidt im Herbst 2019 sein Berufungsdossier einreicht, ist seine Tochter ein halbes Jahr auf der Welt. «Meine Tochter erdet mich ungemein und bringt mehr Ausgeglichenheit in mein Leben», sagt er. Die Wochenenden sind nun der Familie vorbehalten. Doch die Geburt ändert auch seinen Blick auf den Klimawandel: «Man fragt sich plötzlich: In welcher Welt wird meine Tochter leben, wenn sie 40 ist? Wie heiss wird es im Sommer in den Innenstädten sein und wie sicher ist die Lebensmittelversorgung noch?»
Dialog zwischen Wissenschaft und Politik
Seit Sommer 2021 leitet Schmidt das Institut für Wissenschaft, Technologie und Politik, kurz ISTP. Mit seinem interdisziplinären Werdegang steht der ETH-Professor exemplarisch für dessen Anspruch: Das Aus- und Weiterbildungsangebot des ISTP richtet sich an Studierende mit einem natur- oder ingenieurswissenschaftlichen Hintergrund, die sich im Bereich Public Policy spezialisieren wollen.
«Es geht uns darum, die Forschung an der ETH relevanter für die Politik zu machen», erklärt Schmidt. Dafür sei neben Ingenieurinnen und Naturwissenschaftlern, die etwas von Politik verstehen, vor allem ein kontinuierlicher Dialog zwischen Politik und Wissenschaft nötig, der wechselseitiges Verständnis und Vertrauen fördere. Wie dieser Dialog gestaltet werden muss, damit er fruchtbar wird, und welche organisatorischen Strukturen es dazu braucht, wird Schmidt und die ETH wohl noch länger beschäftigen.