Der Kafka-Fund
In einem neuen Band, herausgegeben von Andreas Kilcher, Professor der ETH Zürich, werden erstmals unveröffentlichte Zeichnungen von Franz Kafka publiziert – für viele eine Sensation.
Die meisten kennen Franz Kafka als Autor von Werken wie Die Verwandlung, Der Prozesse oder Das Schloss. Doch Kafka zeichnete auch. Von seinen Zeichnungen waren bisher allerdings nur rund vierzig bekannt. Als man einen Safe an der Zürcher Bahnhofstrasse nach einem langen Rechtsstreit 2019 endlich öffnen durfte, war die Überraschung gross: Neben den Texten, von denen man wusste, dass sie sich im Bankschliessfach befinden, kamen über 100 unbekannte Zeichnungen Kafkas zum Vorschein. Andreas Kilcher, der diese Zeichnungen zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich macht, spricht im Interview über den einmaligen Fund und dessen Bedeutung.
Der Fund der Zeichnungen wird als Sensation bezeichnet. Was ist für Sie so besonders daran?
Dass so viele unbekannte Zeichnungen eines weltbekannten Autors wie Kafka, von dem man glaubte, längst alles zu kennen, aufgetaucht sind, ist allein schon beeindruckend. Für mich sind aber auch die Zeichnungen selbst überraschend. Sie sind vielfach spielerisch und humoresk und zeigen uns einen ziemlich anderen Kafka, als wir ihn aus seinen Texten kennen.
Dann sind die neu entdeckten Zeichnungen also alles andere als «kafkaesk»?
Ich mag den Begriff nicht besonders, der in der Regel benutzt wird, um zu beschreiben, dass eine Situation absurd sei. Bei Kafkas Zeichnungen hingegen sehen wir vielmehr das Spielerische und Groteske, das Überzeichnete und Surreale – teils ähnlich wie bei Karikaturen.
Haben Sie selbst eine Lieblingszeichnung?
Nicht leicht zu sagen, da ich viele mag, aber ich kann die Zeichnung «Übermut des Reichtums» hervorheben. Sie zeigt nicht nur eine «übermütige» Szene, in der zwei offensichtlich wohlhabende Damen sich von zwei Dienern auf überdimensional grossen Tabletts riesige fasanenartige Vögel servieren lassen, während im Hintergrund ein Orchester auf einer Empore spielt. Die Zeichnung zeigt auch den Übermut des Zeichnens selbst.
(Zeichnungen von Franz Kafka. The Literary Estate of Max Brod, National Library of Israel, Jerusalem. Fotos: Ardon Bar Hama.)
Wie kam es, dass gerade Sie die Zeichnungen herausgeben?
Ich kenne die an sich schon abenteuerliche Geschichte von Kafkas Nachlass gut und habe auch den Rechtsstreit darum genau verfolgt. Ich wusste daher also ziemlich genau, dass die Safes der UBS in Zürich, wo der Kafka-Nachlass über Jahrzehnte hinweg lag, neben Manuskripten auch Zeichnungen enthalten. Doch während die Manuskripte alle schon bekannt waren, kannten wir von den Zeichnungen bisher nur einige Proben. Es war aber klar, dass da noch viel mehr Zeichnungen liegen. Als das Zürcher Bezirksgericht 2019 bestätigte, dass die Safes geöffnet und ihr Inhalt der israelischen Nationalbibliothek übergeben werden dürfen, bin ich sofort nach Israel gereist, um mir die Zeichnungen anzusehen, schon mit dem Projekt in der Tasche, diese zu edieren. Umfang und Qualität der Zeichnungen haben dann aber auch mich sehr überrascht.
Es fällt auf, dass die neu entdecken Zeichnungen alle zwischen 1901 und 1907 entstanden sind.
Ja, die meisten der Zeichnungen sind während Kafkas Studienzeit entstanden. Kafka hat aber in der Zeit nicht nur gezeichnet, sondern sich sehr für Kunst interessiert, sogar ein Semester Kunstgeschichte studiert, Künstler kennengelernt. Obwohl sich Kafka nach seiner Studienzeit hauptsächlich als Schriftsteller betätigte, blieb doch das Zeichnen und die Kunst zentral. Dennoch konnte er dieses Interesse nicht auf ein professionelles Niveau heben; und das Zeichnen trat gegenüber dem Schreiben zurück. Es gibt aber Ähnlichkeiten zwischen Zeichnen und Schreiben; beide tendieren ins Imaginäre, beide sind fragmentarisch, unfertig.
Hat sich für Sie durch die Bilder auch der Blick auf Kafkas Texte verändert?
Ja sehr: So wurde mir durch die Bilder klar, wie hoch Kafkas Sensibilität für alles Visuelle ist. Das wirkt sich auch darauf aus, wie er Körper, Gegenstände oder Situationen in seinen Texten beschreibt. Kafka wusste um die ästhetische Kraft von Bildern und setzte diese bewusst und gekonnt ein. Zugleich ist aber auch wichtig zu betonen, dass das zeichnerische Werk eigenständig ist; es sollte nicht vorschnell von den Zeichnungen auf die Texte geschlossen werden und umgekehrt; schon gar nicht sollten die Zeichnungen als Illustration zu seinen Texten verstanden werden.
Veranstaltung
Prof. Andreas Kilcher nimmt am Donnerstag, 9.12. im Literaturhaus Zürich an einem Gespräch über die neue Edition teil. Die Veranstaltung wird auch live gestreamt. Weiter Infos unter: externe Seite Literaturhaus Zürich