«Der Westen sollte die Sanktionen schnell verschärfen»
Im Interview mit ETH-News skizziert der emeritierte ETH-Professor und ehemalige Staatssekretär Michael Ambühl mögliche Eckpfeiler einer diplomatischen Lösung für den Krieg in der Ukraine.
ETH-News: Herr Ambühl, es herrscht nun seit über drei Wochen Krieg in der Ukraine. Wie schätzen sie die Situation ein?
Michael Ambühl: Der Widerstand der ukrainischen Bevölkerung ist eindrücklich und verdient grössten Respekt. Dem Präsidenten, der Bevölkerung und der Armee ist das schier Unvorstellbare gelungen: Putins Militärmaschinerie aus dem Trott zu bringen und seine Blitzkrieg-Vorstellungen zu durchkreuzen.
Das tönt nach einem Aber.
Ich frage mich, wie nachhaltig diese Erfolge sind. Die Grössenverhältnisse haben sich nicht über Nacht geändert und die russischen Atomwaffen erfüllen ihre abschreckende Wirkung bestens, sodass sich die Nato oder andere Dritte aus dem Konflikt heraushalten. Der innenpolitische Sturz Putins scheint kurzfristig kaum realistisch, so wie auch ein Gesinnungswandel, ohne massgebliche Veränderung der Lage, unwahrscheinlich ist.
Zwar beteuern beide Kriegsparteien, sie seien für Gesprächen offen, aber bis jetzt blieben diese Verhandlungen ohne Erfolg. Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit sich das ändert?
Die Situation, in der sich beide Parteien zurzeit befinden, können wir mit dem aus der Spieltheorie bekannten «Chicken Game» beschreiben. In diesem Gedankenexperiment rasen zwei Autos auf einer schmalen Strasse aufeinander zu. Der Fahrer, der zuerst ausweicht, um den sicheren Tod zu vermeiden, wird als «Feigling» oder «Verlierer» bezeichnet. In diesem verrückten Chicken Game gibt es zwei mögliche Ausgänge: der Tod von beiden oder die Etikette «Verlierer» für einen der beiden. Im ersten Fall ist die Katastrophe total, im andern wird es schwierig, eine friedliche Lösung zu etablieren, die nachhaltig ist. Es ist daher entscheidend, das Chicken Game abzubrechen, bevor es zu spät ist.
Wann ist dieser Zeitpunkt gekommen?
Wenn die Parteien zur Einsicht gelangen, dass sie ihre Ziele kriegerisch nicht erreichen können.
Davon scheinen beide Parteien noch weit entfernt zu sein. Was muss noch passieren?
Für Präsident Selenski könnte die katastrophale Lage im Kriegsgebiet mit Tausenden von Toten und Millionen von Vertriebenen Grund genug sein, um ernsthaft in Verhandlungen einzusteigen. Er hat das auch schon mehrmals signalisiert. Welche Bedingungen er dabei akzeptieren wird, hängt von der ukrainischen Schmerzgrenze ab: Wie viele Opfer und Flüchtlinge, welches Ausmass an Zerstörung sind für das Land tolerierbar?
Und für Präsident Putin?
Putin müsste wohl zur Einsicht gelangen, dass er die Ukraine militärisch nicht einfach wieder zu einem Teil Russlands machen kann. Zudem müsste er erkennen, dass er sein Land in die grösste politische Isolation manövriert und eine Wirtschaftskrise erzeugt, unter der Russland noch lange leiden wird.
Wie bringt man ihn zu dieser Einsicht?
Ich sehe vor allem zwei Möglichkeiten: Der Westen muss die Sanktionen so schnell wie möglich auf Gas- und Ölimporte ausweiten und die Ukraine weiterhin mit Waffenlieferungen unterstützen.
«Der Westen muss die Sanktionen so schnell wie möglich auf Gas- und Ölimporte ausweiten und die Ukraine weiterhin mit Waffenlieferungen unterstützen.»Michael Ambühl
Angenommen, die Kriegsparteien wären ernsthaft an einer Verhandlungslösung interessiert. Wie müsste diese aussehen?
Zunächst müsste ein Kompromiss für beide innenpolitisch akzeptabel beziehungsweise «gesichtswahrend» sein. Ausserdem müssten die Konzessionen in ein Gleichgewicht gebracht werden können: Der Verzicht auf etwas, muss mit dem Erhalten von etwas anderem aufgewogen werden. Eine diplomatische Lösung müsste zudem die Beziehungen zwischen Kyiv und Moskau nachhaltig regeln und für alle anderen umliegenden Länder Sicherheiten bringen. Und man wird sich wohl auch zur schmerzlichen Einsicht durchringen müssen, dass Russland als nuklear bewaffnete Grossmacht seine Interessen eher durchsetzen kann.
Das heisst der Stärkere setzt sich einfach durch?
Das dürfte zwar nicht sein, ist aber leider oft eine traurige Realität, die man in den internationalen Beziehungen immer wieder beobachten kann: Sie findet ihren Widerhall zum Beispiel im System des Vetorechts im UNO Sicherheitsrat, im Atomwaffensperrvertrag (NPT) oder in Verhandlungen von Kleinstaaten mit Grossen. Als ehemaliger Diplomat eines Kleinstaates habe ich das oft erlebt. Damit kann man aber Russlands brutalen Angriffskrieg keineswegs rechtfertigen. Er ist auch nicht mit einer angeblichen Bedrohung durch die Nato oder der verletzten russischen Seele begründbar.
Wie könnten die Eckpunkte einer diplomatischen Lösung aussehen?
Die Ukraine müsste realpolitisch gesehen wohl auf zwei russische Forderungen eingehen. Erstens ein Verzicht auf die Krim, die für die meisten Beobachter ohnehin nicht mehr unter die Kontrolle Kyivs zurückkommen wird. Für die ukrainischen Gebiete im Osten, die russisch dominiert sind, wäre hingegen ein Autonomie-Sonderstatus denkbar, auch wenn die Festlegung der entsprechenden Modalitäten sehr schwierig sein wird. So würden diese Gebiete völkerrechtlich zwar noch zur Ukraine gehören, könnten sich aber weitgehend selbst verwalten. Dazu gibt es zahlreiche Modelle, von Zypern über Transnistrien bis zum Hongkong Modell «ein Land, zwei Systeme». Allen ist gemeinsam, dass sie eine konstruktive Ambivalenz oder Grauzone einer offenen Konfliktaustragung vorziehen. Der Autonomiestatus könnte von einer OSZE Mission kontrolliert werden.
Und was ist die zweite Bedingung?
Eine Neutralitäts-Erklärung durch die Ukraine, die aber einen Spielraum offenlassen sollte.
Das müssen sie erklären.
Die Ukraine würde bis auf weiteres keiner Militärallianz beitreten, solange dies der Stabilität und Sicherheit in der Region abträglich wäre. Nach einer gewissen Zeit könnte auf Antrag der Ukraine und zusammen mit der OSZE eine Evaluation vorgenommen werden, um zu prüfen, ob sich die Situation geändert hat. Es würde sich also nicht um eine immerwährende Neutralität wie zum Beispiel in Österreich handeln, sondern um ein eher anpassungsfähiges Konzept.
«Wir brauchen eine neue Sicherheitsarchitektur für Osteuropa.»Michael Ambühl
Das wären keine unerheblichen Zugeständnisse der Ukraine. Was würde sie dafür erhalten?
Sie würde Sicherheitsgarantien von den permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates (P5) und damit auch von Russland erhalten, deren Einhaltung klar definiert und überprüfbar sein müsste. Diese Garantien könnten in der Form einer Souveränitäts-Erklärung erfolgen, in der die territoriale Unversehrtheit der Ukraine garantiert wird, oder durch einen Nichtangriffs-Pakt, in dem alle zu unterlassenden Massnahmen aufgelistet sind. Grössere russische Truppenaufmärsche oder Manöver an der Grenze müssten verboten werden. Sobald diese Auflagen nicht eingehalten werden, käme ein automatischer «Snapback-Mechanismus» zum Tragen. Würde Russland gegen die Auflagen verstossen, würden automatisch die Sanktionen wieder eingesetzt und gegebenenfalls verschärft. Dieser Mechanismus wäre eine Abkehr von früheren «Garantien», die nicht viel Wert hatten, wie jene des Budapester Memorandums, in dem Russland die ukrainischen Grenzen akzeptierte.
Kann das funktionieren?
2015 wurde ein ähnlicher «Snapback Clause» in das Abkommen zwischen Iran und den P5 plus Deutschland, dem «Joint Comprehensive Plan of Action», eingebaut. Dieser wurde damals vom UNO Sicherheitsrat einstimmig genehmigt. Klar, das mit dem Sicherheitsrat wird im vorliegenden Fall wegen des russischen Vetorechts so nicht machbar sein. Einbauen könnte man den Mechanismus aber in einer Erklärung westlicher Staaten, die die Verhandlungen in geeigneter Form begleiten.
Müsste eine diplomatische Lösung nicht auch die Sicherheitsinteressen aller Staaten in der Region berücksichtigen?
Unbedingt. Wir brauchen eine neue Sicherheitsarchitektur für Osteuropa. Diese müsste auf einer Sicherheitskonferenz definiert werden. Dabei ginge es insbesondere um Garantien für die heutigen Nato- und EU-Staaten, die früher Teil der Sowjetunion oder des Warschauer Paktes waren. Als ersten Schritt in diese Richtung könnte man auf eine gemeinsame Absichtserklärung hinarbeiten, so schnell wie möglich eine solche Konferenz einzuberufen.
All diese Vorschläge setzten ein Mindestmass an Vertrauen in die Pakttreue Russlands voraus, das doch mit dem Angriff auf die Ukraine zerstört wurde?
Man kann dem Kremlherr definitiv nicht vertrauen. Umso wichtiger ist es, dass ein Abkommen nicht auf Vertrauen baut, sondern so konstruiert ist, dass das Einhalten im Interesse der Parteien ist. Nur dann werden sie sich daran halten.
Zur Person
Michael Ambühl ist emeritierter Professor für Verhandlungsführung und Konfliktmanagement an der ETH Zürich.
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