Eine ganzheitliche Sicht auf das Ernährungssystem
Eine Landwirtschaft, welche die Lebensgrundlagen erhält? Genügend Nahrungsmittel, um Menschen ausreichend und gesund zu ernähren? Davon sind wir weit entfernt, stellt Robert Finger fest – und skizziert die wichtigsten Handlungsfelder, um das Ernährungssystem nachhaltig zu gestalten.
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Das System, das uns mit Nahrungsmitteln versorgt, steht vor grossen Herausforderungen. In der Schweiz, in Europa und der ganzen Welt: Die Nachfrage steigt, während die Produktionsressourcen schwinden, etwa wegen des Klimawandels oder weil die Bodenfruchtbarkeit sinkt. Gleichzeitig müssen wir die negativen Auswirkungen unseres heutigen Agrar- und Ernährungssystems auf die Lebensvielfalt, die Umwelt und auf unsere Gesundheit massiv reduzieren. Nur, wie lösen wir diese Aufgabe?
Am World Food System Center der ETH Zürich suchen wir gemeinsam mit Forschenden aus mehr als 50 Professuren und verschiedenen Fachrichtungen nach praxistauglichen Antworten. Ein Patent-Rezept gibt es nicht. In den letzten zehn Jahren haben wir aber einige Hebel und Ansätze erarbeitet, um unsere Landwirtschaft, Lebensmittel und Ernährung Schritt für Schritt nachhaltiger zu gestalten:
Das Gesamtsystem betrachten
Unser Speiseplan hat Konsequenzen: Welche Nahrungsmittel wir essen, wie sie produziert, verarbeitet und transportiert werden, wirkt sich unmittelbar auf die Umwelt aus, beeinflusst unsere eigene Gesundheit und ermöglicht anderen Menschen ein Einkommen. Das erfordert systemische Perspektiven, welche neben der Landwirtschaft auch die Nahrungsmittelindustrie, den Handel und auch uns Konsument:innen einbeziehen.
Unsere Lösungen müssen zudem ganzheitlich sein – sprich: lokal funktionieren, dennoch über den eigenen Tellerrand hinaus reichen und globale Zusammenhänge beachten. So bringt es beispielsweise wenig, wenn wir im Inland die Produktion verringern, dafür aber Produkte mit viel grösseren Fussbadruck aus anderen Teilen der Welt importieren.
Verschwendung vermeiden
Ein Drittel unserer Nahrungsmittel gehen als Food Loss und Waste verloren. Reduzieren wir diesen Anteil, sinkt unser Fussbadruck, ohne dass wir uns gross einschränken müssen. Dazu braucht es Schritte vom Feld über den Handel bis hin zu jedem Haushalt.
Effizienz steigern
Auch auf dem Acker besteht grosses Potential für mehr Effizienz. Mittels digitaler Technologien wie der Präzisionslandwirtschaft lassen sich Inputs wie Dünger und Pflanzenschutzmittel gezielt ausbringen, wo man sie braucht. Das schont die Umwelt und senkt Kosten, ohne dass dabei die Produktion von Lebensmitteln leidet. 1
Schädliches ersetzen
Ein weiterer Ansatzpunkt ist die Substitution. Indem wir mehr pflanzliche Proteine statt Milch und Fleisch konsumieren, können wir den Fussabdruck unserer Ernährung reduzieren. Gleiches gilt, wenn wir Schädlinge biologisch statt chemisch bekämpfen2, krankheitsanfällige Sorten durch widerstandsfähige ersetzen3 oder Nutztiere nachhaltiger füttern.
Ursachen statt Symptome bekämpfen
Mehr Effizienz und Substitution mindern zwar negative Auswirkungen, lösen aber die Ursachen der Probleme nicht. Daher müssen wir Agrar- und Ernährungssysteme von Grund auf neu denken. Zum Beispiel im Ackerbau: Hier gilt es neue Formen zu finden, die den Einsatz kritischer Inputs wie Pflanzenschutzmittel reduzieren oder überflüssig machen.4 Dazu braucht es diversere Anbausysteme, Züchtung resistenter Sorten und eine konsequente Umsetzung agrarökologischer Ansätze.
Kreisläufe schliessen
Gute Lösungen gehen über die landwirtschaftliche Produktion hinaus und beziehen vor- und nachgelagerten Stufen mit ein. So lassen sich gerade Nebenströme oder «Abfälle» besser nutzen und wieder in den Kreislauf einbringen. Insekten, die organische Reste aus der Lebensmittelproduktion verwerten, können importierte Soja als Futtermittel für Hühner ersetzen und den Regenwald schonen.5
Akzeptanz und nachhaltiges Verhalten fördern
Neben neue Methoden und Technologien steht immer auch das Verhalten aller Akteure im Fokus unserer Arbeit. Nur wenn die Produzierenden neue Praktiken anwenden und die Konsumierenden sie akzeptieren, entfalten Innovationen ihre Wirkung. Geeignete Politikmassnahmen können entscheidend dazu beitragen, indem sie Anreize geben und das Bewusstsein und die Bereitschaft für neue Verhaltensweisen fördern.
«Ein nachhaltigeres Ernährungssystem ist herausfordernd, aber machbar, wenn wir es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe erkennen.»Robert Finger
Eine der wirksamsten Verhaltensmassnahmen haben wir alle selbst in der Hand, wenn wir unseren Speiseplan gestalten: Weniger tierische Nahrungsmittel, dafür mehr Früchte, Gemüse – das entlastet Klima und Umwelt, ist gut für unsere Gesundheit und unser Portemonnaie.6
Das World Food System Center feiert 10+ Jahre gebündelte ETH-Forschung an nachhaltigen Ernährungssystemen. Der Food Day @ETH gewährt einen Einblick und lädt zu interaktiven Diskussionen und Workshops ein.
Mit Partnern kooperieren
Es sind Ansätze wie diese, die wir im World Food System Center gebündelt in Forschung, Lehre und in der Zusammenarbeit mit Industrie und Politik verfolgen: systematisch, fächerübergreifend und über Landesgrenzen hinweg. Doch keine Organisation, kein Land pflügt eingespielte Praktiken und kulturelle Gewohnheiten im Alleingang um – das kann nur gelingen, wenn zentrale Akteure aus Praxis, Industrie, Politik und die Konsument:innen am selben Strick ziehen. Ein nachhaltigeres Ernährungssystem ist herausfordernd, aber machbar, wenn wir es als gesamtgesellschaftliche Aufgabe erkennen. Auch dafür setzen wir uns ein.
Robert Finger verfasste diesen Blogbeitrag gemeinsam mit Martijn Sonnevelt, Leiter des World Food System Center der ETH Zürich.
1 Projekt externe Seite Innofarm: Digitale Technologien für eine nachhaltige Landwirtschaft
2 Projekt BeneComb: Biologische Bekämpfung von Schadinsekten durch Kombinationen von Pseudomonaden, Nematoden und Pilzen.
3 Projekt ResPEAct: Verbesserung der Krankheitsresistenz von Erbsen durch Selektion an der Schnittstelle Pflanze-Boden.
4 Agrarpolitik-Blog: externe Seite Teilnahme an pestizidfreier Weizenproduktion in der Schweiz
5 Projekt HenandFly: Auf verschiedenen Substraten aufgezogene Larven der Soldatenfliege als neue Proteinquelle.