Ein Biomediziner wird neuer ETH-Vizepräsident für Forschung
Der ETH-Rat hat Christian Wolfrum per 1. Januar 2023 zum Vizepräsidenten für Forschung der ETH Zürich ernannt. Sowohl als Professor für Translationale Ernährungsbiologie wie auch als Studiendirektor und Delegierter Medizin hat Wolfrum die medizinische Lehre und Forschung an der ETH aktiv mitgestaltet.
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Das Interesse Christian Wolfrums an den Naturwissenschaften setzte früh in der Schule ein. Seine Vorliebe galt zunächst der Chemie. Dabei war es weniger der reguläre Unterricht, der seine Neugierde weckte, als vielmehr die Teilnahme an einer Chemieolympiade. Zu seiner Begeisterung für dieses Fach trug besonders die in den 1980er-Jahren populäre Chaos-Theorie mit ihren chaotisch oszillierenden chemischen Reaktionen bei. Da seiner Schule die erforderlichen Reagenzien fehlten, um die Versuche nachzustellen, fragten er und seine Freunde bei einem deutschen Chemie- und Pharmaunternehmen nach und erhielten prompt Stoffe in einem Wert, den sich die Schüler niemals erhofft hätten. Damit führten sie die Versuche durch: «Dabei erkannte ich, was Wissenschaft spannend macht und wie Experimente zu neuen Erkenntnissen führen.»
Heute arbeitet Christian Wolfrum in der Biomedizin, einem interdisziplinären Forschungsgebiet, das experimentelle Medizin mit Methoden der Molekularbiologie und der Zellbiologie verbindet. Seit 2008 lehrt und forscht er in diesem Gebiet als Professor an der ETH Zürich. Er leitet das Labor für Translationale Ernährungsbiologie und wirkt als Studiendirektor des Studiengangs in Gesundheitswissenschaften und Technologie sowie des Bachelors in Humanmedizin, den er mit aufgebaut hat.
Ein Auge für die Grundlagen von Krankheiten
Zudem ist er seit 2020 der Delegierte Medizin der Schulleitung. «Als solcher hat er aktiv zur Stärkung der Zusammenarbeit in Lehre, Forschung und Translation in der Medizin beigetragen und sich für die Förderung und Bündelung der verschiedenen Gesundheitsinitiativen eingesetzt», würdigt ETH-Präsident Joël Mesot den künftigen Vizepräsidenten für Forschung: «Ich bin froh über externe Seite die Wahl durch den ETH-Rat und überzeugt, dass Christian Wolfrum die Kompetenz, die Erfahrung und das Commitment mitbringt, um den Bereich Forschung an der ETH Zürich zu leiten. Zudem ergänzt er das Leitungsgremium unserer Hochschule in fachlicher Hinsicht auf ideale Weise. »
Seine wissenschaftliche Grundausbildung erhielt Christian Wolfrum bis und mit Doktorat in der Biochemie an der Universität Münster. Die Biochemie, so wie er sie antraf, war damals eine reine Grundlagenwissenschaft, die inhaltlich näher bei der Chemie lag als bei der Biologie, und die physikalischen und chemischen Prozesse beschrieb, die Organismen das Leben ermöglichen.
Dazu gehören körperliche Abläufe, zum Beispiel wie durch Nahrungsaufnahme Energie gespeichert wird und sich später für andere Prozesse nutzen lässt. Zudem lassen sich viele Krankheiten auf Störungen der biochemischen Abläufe zurückführen. Als Wolfrum erkannte, dass ihn die Grundlagen von Krankheiten am meisten interessierten, wechselte er als Postdoktorand an die Rockefeller Universität in New York: «Dort eignete ich mir mein physiologisches und biologisches Wissen an und setzte mich mit Stoffwechselerkrankungen wie Fettleibigkeit und Typ 2 Diabetes auseinander und welche molekularen Prozesse dabei falsch reguliert werden.»
Forschung mit Bezug zu den Menschen
An der ETH Zürich rückte die Erforschung der molekularen Grundlagen, wie sich Fettzellen bilden und wie Stoffwechselerkrankungen entstehen, endgültig in den Vordergrund von Wolfrums Interesse. Sein Fokus liegt bis heute auf der Erforschung von Übergewicht und den daraus resultierenden Krankheiten Diabetes oder Fettleber: Zu seinen einflussreichsten Forschungsarbeiten zählt die Entdeckung, dass sich sogenannte braune und weisse Fettzellen ineinander verwandeln können (siehe Artikel in ETH Life).
«Mein Anspruch ist, dass sich meine Erkenntnisse in neue Therapien übertragen lassen.»Christian Wolfrum
«Damit hatte niemand gerechnet», sagt Wolfrum, denn das entsprach nicht der Lehrmeinung. Während weisse Fettzellen Energie speichern, dienen braune Fettzellen dazu, Energie zu verbrennen. Liessen sich weisse Fettzellen medikamentös in braune umwandeln, könnten übergewichtige Menschen abnehmen, indem ihr Körper mehr Fett verbrennt. Auf dieser Erkenntnis bauten viele folgende Ergebnisse auf, und zusammen schaffen sie heute eine Basis, aus der eine Therapie gegen Fettleibigkeit hervorgehen könnte. Wolfrums Forschung zeichnet sich dadurch aus, dass er die Anwendung seiner Ergebnisse, also den Bezug zu den Menschen, nicht aus den Augen verliert: «Mein Anspruch ist, dass sich meine Erkenntnisse in neue Therapien übertragen lassen.»
Während seiner gesamten Laufbahn hat sich Christian Wolfrum in Forschungsgebieten bewegt, in denen sich verschiedene Disziplinen überlappen und die fachübergreifende Zusammenarbeit ebenso naheliegend wie notwendig ist. Allein die Labor- und Computertechnologien haben sich seit der Jahrtausendwende derart entwickelt, dass der biomedizinische Erkenntnisfortschritt nur arbeitsteilig möglich ist: «Unsere Forschung funktioniert nur, wenn Naturwissenschaftler:innen, Mediziner:innen und Bioinformatiker:innen zusammenarbeiten – in der ganzen Kette vom ersten Laborergebnis bis zur Translation in die Klinik.»
Rasante wissenschaftliche Umwälzungen
Wolfrums Forscherkarriere fällt mit einer historischen Phase zusammen, in der sich die Biomedizin und ihre Forschungsmethoden grundlegend verändert haben. Mit der Entschlüsselung des menschlichen Genoms im Jahr 2001 begann der Aufstieg der Bioinformatik und der riesigen Datensammlungen. «Hochdurchsatzdaten», die in grossen Mengen und schnell erzeugt werden, spielen seitdem eine wichtige Rolle in der Biomedizin.
Sie stehen in direkter Verbindung mit den «Omics»-Technologien (Genomik, Proteomik, Metabolomik und Transkriptomik) – das sind Methoden, mit welchen sich Veränderungen von Proteinen, Stoffwechselprodukten oder der Expression von Genen unter bestimmten Bedingungen, zum Beispiel in einer Gruppe von übergewichtigen Menschen im Vergleich zu einer Gruppe Normalgewichtiger, bestimmen lassen.
An der ETH Zürich entwickelten Forschende aus verschiedenen Biowissenschaften schon früh solche integralen «Omics»-Ansätze. «Dadurch, dass wir heute die Krankheitsursachen anhand von Tausenden von Genen oder Molekülen erkennen können anstatt nur über einzelne, können wir die Patient:innen viel präziser nach Merkmalsgruppen unterscheiden und die Therapien viel genauer darauf abstimmen. Das erhöht die Erfolgsaussicht einer Behandlung.»
Der Blickwechsel von der Krankheit zur Gesundheit
Aus nächster Nähe miterlebt hat Christian Wolfrum den Paradigmenwechsel der medizinischen Forschung an der ETH, der 2012 mit der Gründung des Departements Gesundheitswissenschaften und Technologie und des gleichnamigen Studiengangs einherging. Lehre und Forschung in der Medizin widmen sich heute nicht mehr allein den Ursachen von Krankheiten, sondern ebenso sehr der Erhaltung und Verbesserung der Gesundheit.
In dieser Ausrichtung fokussiert die Wissenschaft auf die Menschen, ihre Körper, ihre Individualität und die sich (mit dem Alter) ändernden Lebensstile. Das Konzept der ETH bewährte sich von Anfang an. «Unser Studiengang stiess auf hohen Zuspruch bei Studierenden, die sich für Biologie mit einer Relevanz für den Menschen interessieren», erinnert sich Wolfrum, der diese Ausbildung als Studiendirektor leitet.
Bereits als Professor und Studiendirektor lernte Wolfrum verschiedene Perspektiven der Zusammenarbeit zwischen Grundlagenforschung und Klinik kennen. Das Amt des Delegierten Medizin vermittelte ihm zusätzliche Einsichten, wie institutionelle Rahmenbedingungen und Forschungsentwicklung einander beeinflussen – zum Beispiel, was institutionell gebraucht wird, damit die Schweiz in der Medizin sowohl internationale Spitzenforschung betreiben als auch die regionale Gesundheitsversorgung gewährleisten kann.
Als Wissenschaftler, der ein Thema wie Übergewicht erforscht, das die Bevölkerung direkt anspricht, hat Christian Wolfrum eine klare Vorstellung zum Dialog mit der Gesellschaft: «Wenn die Wissenschaftskommunikation Fächer wie zum Beispiel Ernährung und Gesundheit betrifft, die einen direkten Einfluss auf das Verhalten in der Bevölkerung haben, sind Korrelationen und strenge Kausalität auseinanderzuhalten.»
Korreliert man zum Beispiel den Schokoladenkonsum pro Kopf mit der Zahl der Nobelpreisträger:innen in einem Land, dann liegt die Schweiz auf Platz 1. Der Schluss, dass die Schweiz so viele Nobelpreise hat, weil die Menschen hierzulande am meisten Schokolade essen, ist jedoch falsch.
Seinen gesamten Erfahrungsschatz als Forscher, Studiendirektor und Delegierter will Wolfrum nun mit offenem Geist in seine Vizepräsidentschaft einbringen.