Wie die Welt in den Computer kam
Damit die Welt mit Computern verwaltet und organisiert werden kann, muss sie der digitalen Logik der Maschinen folgen. Mit grossem Unterhaltungswert erzählt der Historiker David Gugerli die Geschichte dieses eindrücklichen Anpassungsprozesses.
Ausschalten: So lautet die letzte Kapitelüberschrift in David Gugerlis neuestem Werk über die Geschichte des Computers. Das heisst, eigentlich ist es eine Geschichte über Ingenieure – ganz am Rande kommen auch Ingenieurinnen vor – sowie über die Anwenderinnen und Anwender ihrer Maschinen und Programme. Und damit dreht sich das Buch letztlich um uns alle.
Wir sind heute dauernd online, schauen uns die neuesten Nachrichten an, schreiben E-Mails, laden Posts hoch, planen Reisen und rufen den Wetterbericht auf. Wer sich dafür interessiert, welche Entwicklungen in den letzten 70 Jahren dazu geführt haben, dass Computer zu unseren täglichen Begleitern geworden sind, nimmt sich die letzte Kapitelüberschrift zu Herzen, schaltet also das Smartphone aus, gibt sich Gugerlis Erzähllust hin und beginnt mit dem ersten Kapitel: «Einschalten».
Grosses Thema leichtfüssig erzählt
David Gugerli hat sich eines grossen Themas angenommen: der Entstehung der digitalen Wirklichkeit. In seinen Schilderungen gerät der Professor für Technikgeschichte an der ETH Zürich dennoch nirgends ins Dozieren, ganz im Gegenteil. Der essayistische Stil des Buches und ein wohltuend ironisch-distanzierter Grundton, der mitschwingt, machen das Buch zu einer erquicklichen Sommerlektüre. Anhand von offiziellen Publikationen, Einschätzungen und Prognosen zeitgenössischer Akteure – und manchmal derer Falsifizierung im Nachhinein – schildert der Autor auf 200 Seiten, was es alles braucht, bis sich eine neue Technologie durchsetzt. In diesem Fall eine Technologie, die unsere ganze Gesellschaft im Innersten erfasst hat und immer noch verändert. Dass es sich trotz des lockeren Stils um ein seriöses Werk handelt, unterstreichen der rund 20-seitige Anmerkungsapparat und 25 Seiten Bibliographie.
Ordnen und rechnen
Die Geschichte beginnt bei den Grossrechnern der 1950er Jahre, als Remington Rand den UNIVAC präsentierte. Eigentlich beginnt sie aber bei der Frage, was ein Computer überhaupt ist: «Darüber, was zu den wesentlichen Eigenscharten eines Computers zählte, waren sich nicht einmal jene einig, die bereits einen gebaut hatten», schreibt Gugerli. Dass schnelles Rechnen dazu gehört, ist unbestritten. Umso erstaunlicher sei, dass im Werbefilm zum UNIVAC das Rechnen nie als Prozess auftauchte, sondern nur als Resultat. «Die Rechnerei war bereits in die Blackbox der Maschine entschwunden», stellt Gugerli erstaunt fest. Um in diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass der Rechner in Frankreich noch heute «ordinateur» heisst. Ein Begriff, der den Akzent auf das Sortieren und Klassifizieren von Informationen legt, also Tätigkeiten, die vor dem eigentlichen Rechenprozess kommen und die als erstes in den Computer kamen.
Widerstände überwinden
Im Zentrum von Gugerlis Erzählung stehen nicht die Maschinen, sondern die Frage, was es brauchte, um sie zu benutzen. Also das Personal, das die Aufträge so vorbereiten musste, dass die schnellen Rechenmaschinen arbeiten konnten. Gugerli berichtet etwa von den Erfahrungen Eduard Stiefels, Professor für angewandte Mathematik, der Anfang der 50er Jahre zu den Pionieren gehörte. Er betrieb mit seiner Gruppe an der ETH Zürich die «Z4» von Konrad Zuse und stellte fest, dass die Vorbereitung meistens ein Mehrfaches an Zeit und Denkarbeit gebraucht habe, als was die einmalige Durchführung der Rechnung von Hand benötigt hätte. Stiefel habe postuliert, eine Bibliothek von Standardprogrammen anzulegen, mit denen die Automaten ohne grossen Vorbereitungsaufwand genutzt werden könnten. Die Arbeit des Programmierens habe er als langweilig eingeschätzt.
Anhand vieler solcher Beispiele zeigt Gugerli die Widerstände, die es zu überwinden und die Diskussionen, die es zu führen galt, bis die neuen Maschinen wirtschaftlich sinnvoll eingesetzt werden konnten. Er zeigt anschaulich, welche enormen organisatorischen Anstrengungen notwendig waren, wie in Firmen Arbeitsprozesse angepasst wurden und in den Anfangszeiten Regeln implementiert, die es erlaubten, die rare Infrastruktur in Form von Grossrechnern gemeinsam zu nutzen. Besonders eindrücklich schildert er das komplexe technisch-organisatorische Zusammenspiel am Beispiel des Mission Control Center der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA in Houston.
Neue Industrien, neue Berufe
Gugerli beschreibt, wie sich neue Berufsgruppen, etwa Programmierer und Operatricen herausbildeten, die dann im Laufe der weiteren technologischen Errungenschaften teils wieder verschwanden. Als Leser wird einem bewusst, wie schnell sich der Informatikbereich entwickelt und wie grundlegend er das Leben und Arbeiten verändert hat. Im Laufe des Buches beleuchtet der Autor das Entstehen der Softwareindustrie, von Betriebssystemen, die Geburt des ersten Personal Computers und schliesslich des World Wide Webs – alles Voraussetzungen für unsere smarten digitalen Begleiter von heute.
«Wie die Welt in den Computer kam», lautet der Buchtitel, und er sagt deutlich, wofür sich Gugerli interessiert: Die Entscheidungen und Anpassungen in der realen Welt, die notwendig sind, um sie in eine digitale Wirklichkeit zu transformieren. Folgerichtig endet das Buch dort, wo «Systeme (…) so komplex werden, dass die Interaktion ihrer Komponenten nicht einmal von hochspezialisierten Systemverantwortlichen installiert, konfiguriert, optimiert, unterhalten und zusammengebaut werden können». Dort also, wo Entscheidungen vom Menschen an den Computer delegiert werden. Dort, wo wir heute stehen.
Zur Person
David Gugerli, geboren 1961, studierte Geschichte und Literaturwissenschaften. Nach seiner Promotion in Geschichte und diversen Auslandaufenthalten habilitierte er 1995 an der Universität Zürich. 1997 wurde Gugerli als Assistenzprofessor an die ETH Zürich berufen, wo er seit 2001 ordentlicher Professor für Technikgeschichte ist.
David Gugerli: Wie die Welt in den Computer kam. Zur Entstehung digitaler Wirklichkeit.
Verlag S. Fischer, Frankfurt a/M 2018, 256 Seiten, CHF 39.90