«Biologische Variabilität erschwert Reproduzierbarkeit»

Resultate, die Forscherinnen und Forscher mit Hela-Zellen erzielen, sind oft schlecht reproduzierbar. Das hat aber nichts mit unredlicher oder schlechter Wissenschaft zu tun, sondern mit der Variabilität des verwendeten Zellmaterials, sagt ETH-Professor Ruedi Aebersold im Interview mit ETH-News.

Mehrfach-Fluoreszenzaufnahme von Hela-Zellen: Hundertausende von Experimenten basieren auf den Nachkommen von Krebszellen aus einem Gebärmutterhalskrebs. (Bild:  National Institutes of Health NIH)
Mehrfach-Fluoreszenzaufnahme von Hela-Zellen: Hundertausende von Experimenten basieren auf den Nachkommen von Krebszellen aus einem Gebärmutterhalskrebs. (Bild: National Institutes of Health NIH)

Hela-Zellen sind quasi der VW Golf in der Zellkultur. Bis heute haben Wissenschaftler diese Zellen in Hunderttausenden von Experimenten der Life Sciences verwendet, Zehntausende von wissenschaftlichen Publikationen beschäftigen sich mit ihnen. Forschungsergebnisse dieser geklonten Nachkommen von menschlichen Krebszellen sind allerdings nicht immer von anderen Wissenschaftlern reproduzierbar. In einer immensen molekularen Zell-Vermessungsaktion ist eine Gruppe von Systembiologen um ETH-Professor Ruedi Aebersold nun dieser mangelnden Reproduzierbarkeit auf den Grund gegangen.

Vergrösserte Ansicht: Ruedi Aebersold.
Ruedi Aebersold.

ETH-News: In ihrer jüngsten Studie untersuchten Sie und ihre Mitarbeitenden sehr umfassend 14 verschiedene Populationen von Hela-Zellen. Was war für Sie die Motivation für eine solche Fleissarbeit?
Ruedi Aebersold: In der externe Seite Studie geht es um die Frage der Reproduzierbarkeit wissenschaftlicher Daten – ein wichtiges Thema, das in der Wissenschaft aber auch in der Presse immer wieder aufkommt.

Was sind die wichtigsten Resultate aus Ihrer Studie?
Wir zeigen klar auf, dass die Nicht-Reproduzierbarkeit wenigstens zum Teil auf die Vielfalt der Hela-Zellen zurückzuführen ist. Die angeblich identischen Zellen, welche die Forschenden einsetzten, sind sehr verschieden in Bezug auf ihre Gene, Transkripte und auch in Bezug auf die Proteine, die aufgrund der Gene produziert werden.

Was ist daran so bemerkenswert?
Hela-Zellen haben alle den gleichen Ursprung. Sie stammen von Zellmaterial ab, das in den 1950er Jahren einer Patientin mit Gebärmutterhalskrebs entnommen wurde. Diese Zellen sind im Prinzip unsterblich und werden in Nährlösungen kultiviert und weltweit in Labors für Experimente gebraucht. Das Problem ist, dass sich die Hela-Zellen im Lauf der Zeit verändern. Führt man mit ihnen in verschiedenen Labors das gleiche Experiment durch, so kommen möglicherweise andere Resultate zustande. Dies wird in der Regel als schlechte Arbeit oder nicht reproduzierbar interpretiert. Der Punkt ist aber der: Die Resultate sind nicht reproduzierbar, weil die verwendeten Zellen nicht identisch sind.

Wieso sind denn die Zellen dermassen verschieden?
Sie verändern sich zu schnell und ihr Genom ist instabil, weil es sich im Grunde um Krebszellen handelt. Hela-Zellen teilen sich alle 24 Stunden. Bei jeder Teilung ereignen sich zufällige Mutationen, welche das Genom verändern. Aus einem veränderten Genom gehen andere Transkripte, also Boten-RNA-Moleküle hervor, anhand derer wiederum leicht variierte Proteine gebildet werden.

Fast 100'000 wissenschaftliche Publikationen stützen sich auf die Arbeit mit Hela-Zellen. Macht Ihre neue Studie diese Arbeiten wertlos?
Diese Arbeiten sind sicher nicht wertlos. Aber es kommt häufig vor, dass zwei Studien, die das gleiche untersuchten, zu verschiedenen Schlüssen kamen. Unsere Studie zeigt nun, dass dies normal ist, weil die in Experimenten eingesetzten Zellen sehr unterschiedlich sind.

Wie gelangen Ihre Erkenntnisse in die Laborpraxis?
Wir wollen im Juni zusammen mit der European Molecular Biology Organization EMBO einen Workshop durchführen. Eingeladen sind Experten, die sich mit genomischer Instabilität befassen, Zellbiologen aber auch Vertreter von Fachzeitschriften und wissenschaftlichen Förderinstitutionen. Ziel ist, Empfehlungen herauszugeben, wie das Problem zur Erhöhung der Reproduzierbarkeit von Forschungsresultaten entschärft werden kann.

In welche Richtungen gehen die Empfehlungen?
Die einfachste Empfehlung ist die: Die verwendeten Zellen sind stets gut zu dokumentieren. Das ist ein Minimalziel. In einem Grossteil der 100'000 Publikationen steht nur, dass mit Hela-Zellen gearbeitet wurde. Eine weitere Empfehlung ist, dass man nur noch Zellen verwenden soll, die möglichst wenige Teilungen hinter sich haben. Andere Forscher schlugen schon vor, die Arbeit mit Krebszelllinien ganz zu verbieten. Dies ist meines Erachtens keine gute Lösung. Wichtig ist, dass das Problem nun erkannt und offengelegt ist.

Was soll die Dokumentation umfassen?
Ich schlage vor, dass ein molekularer Fingerabdruck erstellt wird, und zwar des Proteoms, also der Gesamtheit aller Proteine, oder des Transkriptoms, der Gesamtheit der Boten RNA Moleküle, die zu einem bestimmten Zeitpunkt in den für Versuche verwendeten Zellen vorliegen. Solche Messungen kann man heute für relativ wenig Geld machen lassen. Dennoch könnten diese Kosten Anlass geben für Widerstand in der Wissenschaftsgemeinschaft. Im Vergleich zu den Gesamtkosten einer Forschungsarbeit sind die Kosten für einen solchen Fingerabdruck allerdings gering. Dieser Fingerabdruck soll dann der Publikation angehängt werden. Hätte man heute für alle der 100’000 Arbeiten molekulare Daten über die verwendeten Zellen, könnte man mithilfe von Computeranalysen ungeahnte Einsichten in das Funktionieren von Zellen gewinnen. Die Fingerabdruck-Daten wären eine Goldmine für die Biologie.

Wie stark betrifft das Thema der Nicht-Reproduzierbarkeit die Pharmaforschung?
An den Workshop werden wir auch Vertreter und Vertreterinnen aus der Pharmaindustrie einladen. Die Pharmaforschung arbeitet oft mit Krebszellenlinien, um Substanzen aus Wirkstoffsammlungen zu testen. Auch der Pharmaforschung stellt sich die Frage, wie stabil die verwendeten Zellen sind und wie schnell sie sich über die Zeit verändert haben. Das ist wichtig, gerade auch im Hinblick darauf, dass die Daten von Zellkulturtests für die Zulassung eines Wirkstoffs durch die Behörden nötig sind.

Weshalb verwendet die Forschung trotz dieser Schwierigkeiten Hela-Zellen?
Krebszelllinien sind einfach im Handling, weil die Zellen robust sind, sich gut vermehren und schnell wachsen. Seit kurzem gibt es bestimmte Stammzellen, die genetisch stabiler sind. Sie zu generieren, ist jedoch aufwändiger und teurer. Gewisse Forscher finden, man solle nur noch mit solchen Stammzellen arbeiten. Arbeitet ein Labor aber seit Jahren mit Hela-Zellen, kann es nicht einfach auf andere Zelllinien umstellen, weil die gesamte Forschung darauf aufbaut.

Warum ist die Reproduzierbarkeit dermassen wichtig?
Sie ist die Grundlage der experimentellen Forschung. Erkenntnisse, die sich erhärten, sollten reproduzierbar sein. Wenn sie es nicht sind, dann haben wir etwas nicht gut genug verstanden. Oft werden diese Arbeiten dann wiederholt. Ein Teil der beobachteten Variabilität oder schlechten Reproduzierbarkeit ist inhärent in den biologischen Materialien, und nicht in der Technik, die in Labors eingesetzt wird.

Literaturhinweis

Liu Y, Mi Y, Mueller T et al. Multi-omic measurements of heterogeneity in HeLa cells across laboratories. Nature Biotechnology, volume 37, pages 314–322 (2019). doi: externe Seite 10.1038/s41587-019-0037-y

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