Der Mann für die grossen Massstäbe
Christophe Girot hat die Landschaftsarchitektur in die digitale Welt gebracht und eine ganze Generation von Architekt:innen für grosse Massstäbe sensibilisiert. Nach über 20 Jahren als ETH-Professor wird er nun emeritiert.
Ob der Gotthard mit seiner Verkehrsinfrastruktur, die ungeahnten Tiefen des Zürcher Hauptbahnhofs, das Innenleben japanischer Gärten oder ein stillgelegter Eisenbahnkorridor, der quer durch Singapur verläuft: Die von einem 3D-Laserscanner aufgezeichneten Punkte verschmelzen immer wieder aufs Neue zu präzisen, digitalen Landschaften, deren transparenter Ästhetik etwas Mystisches anhaftet.
Seit über 15 Jahren prägen die dreidimensionalen Punktwolkenmodelle von ETH-Professor Christophe Girot die Landschaftsarchitektur. Eine ganze Generation von Architekt:innen hat durch ihn gelernt, in grossen Massstäben zu denken und zu entwerfen. Anfang Februar 2023 wird der Franzose, der seit 2001 die Professur für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich innehat, emeritiert.
Er hinterlässt eine Disziplin, die in ihrem Selbstverständnis gestärkt und aus den Lehrplänen junger Architekt:innen nicht mehr wegzudenken ist. Kein Wunder: Denn die Gestaltung von Landschaften, die in Zukunft unsere Städte kühlen, die Biodiversität stärken und die Wasserversorgung gewährleisten, ist eine der zentralen gesellschaftlichen Aufgaben dieses Jahrhunderts.
Die Natur ist Kultur
Christophe Girot wächst in der Nähe des Londoner Richmond Parks auf. Die Wälder, Pfade und Wiesen im Südwesten der Stadt sind wie eine zweite Heimat für ihn. Mit elf Jahren zieht er mit seiner Familie nach Versailles. Was ihn dort erwartet, könnte unterschiedlicher nicht sein: hier die gezähmte Wildnis englischer Gärten, dort die absolutistische Strenge des Versailler Schlossgartens.
Girot ist schon in jungen Jahren beeindruckt davon, wie verschieden man Landschaften gestalten kann. Die gegensätzlichen Eindrücke, die er in Paris und London sammelt, sensibilisieren ihn dafür, dass jede Kultur ihre eigene Wahrnehmung von und Haltung gegenüber der Natur hat. «Die Natur ist dem Menschen immer Kultur», schreibt er später dazu.
Jenseits des Gartenzauns
Für sein Studium zieht es Girot in den frühen 80er-Jahren an die U.C. Berkeley in Kalifornien. Er absolviert einen Doppelmaster in Architektur und Landschaftsarchitektur. Das Verhältnis der beiden Disziplinen lässt ihn seit dieser Zeit nicht mehr los: «Es gab damals kaum einen Dialog. Landschaftsplanung war vom Natur- und Heimatschutz geprägt, während in der Architektur die Postmoderne anbrach und sich Architekt:innen in ihrer Formsprache immer radikaler von der Umwelt abgrenzten» erinnert er sich.
Für Girot ist schon damals klar, dass die beiden Disziplinen zusammengehören, wie zwei Seiten der gleichen Medaille. «Sobald der Mensch sesshaft wird und sich ein fixes Dach über dem Kopf baut, muss er auch die Umgebung gestalten, indem er Felder anlegt, Wälder rodet und Wiesen pflegt. Auch heute noch beginnt Landschaftsarchitektur mit der Überwindung des Gartenzauns», so Girot.
Entwurf des Berliner Invalidenparks
Nach zehn Jahren in den Vereinigten Staaten kehrt er 1990 nach Versailles zurück und übernimmt dort die Professur für Landschaftsarchitektur an der Ecole Nationale Supérieure de Paysage. Mit seinem Atelier «Phusis» ist Girot in dieser Zeit auch als Praktiker tätig und entwirft Parks in Paris und einigen kleineren französischen Ortschaften.
Seinen bis dahin grössten Erfolg feiert der Landschaftsarchitekt 1992 mit seinem Entwurf des Berliner Invalidenparks für den er später mit dem Fritz-Schumacher-Preis ausgezeichnet wird. Dass die Deutschen einen Franzosen damit beauftragen, diesen symbolischen Ort an der Grenze zwischen Ost- und West-Berlin neu zu gestalten, galt damals als Sensation.
Besonders markant an Girots Entwurf ist das grosse Wasserbecken, in dem eine Granitmauer zu versinken scheint. «Der Park schuf einen Ort der Begegnung in der erst seit wenigen Jahren wiedervereinigten Stadt und erinnert gleichzeitig an die Berliner Mauer, die ganz in der Nähe stand», erklärt er.
Einsatz für die Landschaftsarchitektur
Als Christoph Girot 1999 als Gastprofessor an die ETH Zürich kommt, um die Nachfolge des früh verstorbenen ETH-Professors Dieter Kienast anzutreten, galt die Landschaftsarchitektur eher als eine Randerscheinung im Departement für Architektur. Dies sollte sich bald ändern: Schritt für Schritt schaffte es Girot, die Disziplin stärker im Departement zu verankern.
Er überzeugt seine Kolleg:innen davon, Landschaftsarchitektur auch als Entwurfsstudio und nicht nur als Wahlfach unterrichten zu können. «Seit 2005 können sich Studierende der Architektur ein ganzes Semester lang landschaftlichen Entwürfen widmen. Das war ein Quantensprung», sagt er rückblickend.
«Jede vierte oder fünfte Strasse in Zürich wird in zehn Jahren eine Grünfläche sein müssen, sonst wird es ungemütlich.»Christophe Girot
Im gleichen Jahr wurde eine zweite Professur für Landschaftsarchitektur an der ETH Zürich geschaffen und mit Günther Vogt besetzt. Gemeinsam mit Vogt gründete Girot das Institut für Landschaftsarchitektur. Die beiden setzen sich fortan konsequent für das ein, was Girot schon als Student in den USA erkennt: Dass Architektur und Landschaftsarchitektur zusammengehören.
Diese stete Aufwertung des landschaftlichen Denkens an der ETH Zürich gipfelt 2020 schliesslich in der Einführung eines eignen Masterstudiums für Landschaftsarchitektur – das erste an einer Schweizer Universität.
Ein Plan für 3,7 Millionen Kubikmeter Aushub
Der Wechsel an die ETH Zürich wird auch ein Wendepunkt für Girots Karriere als Praktiker: Er widmet sich nicht nur in seiner Forschung, sondern auch in seinen Projekten den grösseren Massstäben. Neben mehreren Städtebauprojekten wie dem Entwurf für einen neuen Hochschulcampus in Zürich wird dieser Perspektivenwechsel besonders beim «Alp Transit Projekt» deutlich.
Von 2003 bis 2020 beschäftigt sich Girot damit, was mit den 3,7 Millionen Kubikmeter Aushub passieren soll, die beim Bau des Gotthard Eisenbahntunnels anfallen. Sein Entwurf sieht vor, dass Aushubmaterial in Terrassen am Fuss des Monte Ceneri zu platzieren und zu begrünen. Während über 15 Jahren Bautätigkeit wird so aus einer kargen Halde allmählich ein grünes Naherholungsgebiet.
Berge digital versetzen
Um die Topografie des Monte Ceneri besser zu verstehen und das Volumen des Aushubs zu berechnen, setzt Girot beim «Alp Transit Projekt» erstmals eine Methode in der Praxis ein, deren Potenzial für die Visualisierung von Landschaften er schon früh erkennt: die Punktwolkenmodellierung. «Während wir früher vor allem mit Plänen und Bildern entwarfen, können wir heute ganze Stadtteile oder Bergtäler dreidimensional darstellen und dann am Bildschirm bearbeiten», erklärt der Architekt.
Durch die Integration dieser Technik in seinen Lehrveranstaltungen und Forschungsprojekten trägt Girot massgeblich dazu bei, die Landschaftsarchitektur in die digitale Welt zu bringen. Immer wieder sucht er dafür auch die Zusammenarbeit mit Forschenden aus anderen Disziplinen. So auch beim Labor für Landschaftsvisualisierung und -modellierung, das er 2009 gemeinsam mit ETH-Professorin Adrienne Grêt-Regamey gründete.
Topologie inspiriert das Entwerfen
Doch Christophe Girot ist auch ein leidenschaftlicher Theoretiker der Landschaft. Gemeinsam mit seinen Mitarbeitenden am Lehrstuhl prägt er in einem 2012 erschienen Pamphlet den Begriff der Topologie.
Unter Topologie verstehen die Autoren eine gesamthafte Betrachtung des Raumes, die lokale Gegebenheiten wie den Boden, die Vegetation, das Wetter, aber auch das Verhalten der Menschen vor Ort ernst nimmt. «Topologisch inspiriertes Entwerfen nimmt Orte in ihrer Einzigartigkeit wahr und orientiert sich am Wohlbefinden der Menschen», erklärt Girot.
Diese Vision von Landschaftsarchitektur mutet bescheiden und sensibel an: Es geht ihr nicht um Interventionen, die möglichst viel Aufmerksamkeit erzeugen. Vielmehr sollten Landschaftsarchitekt:innen bedacht und unter Berücksichtigung dessen, was schon da ist, gestalten und dabei möglichst langfristig denken.
Resilient dank guter Landschaftsarchitektur
Für Christoph Girot ist die Landschaftsarchitektur heute wichtiger denn je: «Die Landschaften, die wir heute gestalten, müssen nicht nur den extremeren Wetterbedingungen der Zukunft standhalten. Sie müssen dazu beitragen, die unausweichliche Erwärmung der Erde zu bewältigen», sagt der ETH-Professor.
Besonders relevant sei dies in den Städten, wo Temperaturen über 40 Grad in Zukunft viel häufiger sein werden. Für Girot heisst das konkret, dass wir sehr viel mehr Vegetation in urbanen Räumen brauchen, um diese zu kühlen: «Jede vierte oder fünfte Strasse in Zürich wird in zehn Jahren eine Grünfläche sein müssen, sonst wird es ungemütlich. Städteplanung wird immer stärker zur Landschaftsplanung», ist er überzeugt. Ganz im Sinne seiner Vision wären Landschaftsarchitektur und Architektur plötzlich doch zwei Seiten der gleichen Medaille.