Mehr als nur künstliche Intelligenz
ETH-Alumna Paulina Grnarova will mittels künstlicher Intelligenz die Arbeitsweise im Rechtswesen revolutionieren. Seit Forbes sie bei «30 under 30» gelistet hat, sind alle Augen auf sie gerichtet.
Paulina Grnarova schlendert durch die grellbunten Räume des WOW-Museums in Zürich. Fasziniert betrachtet sie die optischen Illusionen, die das Museum beherbergt. Diese versetzen die 30-Jährige gedanklich in ihre Kindheit. Bereits damals hatte sie ein Faible für Mathematik und Geometrie. Ihr Vater, ein Informatik-Professor und Unternehmer, förderte ihr Interesse an Technologie und Mathematik früh und führte sie auf spielerische Art und Weise in die Materie ein. «Matheaufgaben waren als Kind für mich wie Rätsel, die ich lösen konnte. Bereits mit sieben Jahren nahm ich in Nordmazedonien, wo ich aufgewachsen bin, an Mathematikwettbewerben teil», so Grnarova.
Es erstaunt nicht, dass sie später Computer Science studierte und nun eine Softwarefirma gegründet hat, die sich im Kern auf künstliche Intelligenz (KI) stützt. Grnarova findet es genial, wie das WOW Museum mathematische und optische Konzepte für Besucher erlebbar macht. Sie ist auch ein grosser Fan von Gamification. So nutzt sie seit Jahren die App Duolingo, um Deutsch zu lernen.
«Ich bin ein absoluter ‹Over-Achiever›», bekennt Grnarova, «nicht nur beruflich.» Beinahe täglich trainiert sie beim Sportangebot der Hochschule Body Combat, Konditionstraining oder Tanzen. In ihrer Freizeit falle es ihr nicht immer leicht, die Arbeit auszublenden. Sie liest dann Bücher oder hört Podcasts von anderen erfolgreichen Gründerinnen. Der stete Einsatz hat sich für sie ausgezahlt: An der Universität in Skopje schloss sie als Beste ab und erhielt vom Präsidenten des heutigen Nordmazedoniens eine prestigeträchtige Auszeichnung, dank der sie im Ausland studieren konnte. Ihre Wahl fiel zunächst auf die ETH Lausanne, fürs Doktorat wechselte sie dann an die ETH Zürich.
Künstliche Intelligenz für Anwälte
Vor gut einem Jahr gründete Grnarova die Firma DeepJudge zusammen mit drei anderen Doktorierenden aus dem Data Analytics Lab, das von ETH-Professor Thomas Hofmann geführt wird. «Mit unserer Plattform wollen wir die Arbeit von Anwälten und anderen Berufsgruppen im Rechtsbereich revolutionieren», erklärt sie. Die KI-unterstützte Software erledigt manuelle und zeitaufwändige Aufgaben und stellt die relevanten Informationen aus tausenden von Dokumenten bereit. «So können sich Anwälte mehr auf die strategischen Aspekte ihres Jobs konzentrieren», führt Grnarova aus. Die meisten juristischen Softwarelösungen, die es auf dem Markt gibt, fokussieren nur auf eine spezielle Aufgabe, ohne Synergien und Parallelen zwischen verschiedenen Arbeiten zu nutzen. DeepJudge unterstützt Anwälte jedoch bei verschiedenen Tasks und fungiert als virtueller Allroundassistent.
Es gibt einen weiteren, wesentlichen Faktor, den DeepJudge anderen voraus hat: Die künstliche Intelligenz wurde mittels Millionen von öffentlichen Rechtsdokumenten darauf trainiert, die semantischen Inhalte verstehen und sie kontextbasiert anwenden zu können. Damit ist die Software unter anderem in der Lage, verschiedene Verträge zu vergleichen und daraus selbstständig eine Vorlage für einen neuen Vertrag anzufertigen. Bereits vorhandene rechtliche Dokumente können auf der Plattform in einer «augmentierten» Version betrachtet werden, die automatisch relevante Gesetzesparagrafen und Gerichtsentscheide einblendet oder auf bestehende Handelsregistereinträge verweist. Sensible Inhalte in Unterlagen schwärzen? Ein einziger Mausklick und die Sache ist erledigt.
«Das Feld der künstlichen Intelligenz erlebte eine Revolution und Computer konnten bei gewissen Aufgaben sogar übermenschliche Leistungen erreichen»Paulina Grnarova
Sprache und Kontext verstehen
Der Quantensprung, der DeepJudge durch das semantische Verständnis und die Berücksichtigung des Kontexts gelungen ist, basiert zum einen auf Deep Learning, aber auch auf Natural Language Processing. «Ich konnte in diesem Bereich wertvolle Erfahrungen sammeln, als ich 2017 für zweieinhalb Jahre bei Google AI Language im Forschungsteam von ‹Google Assistant› mitarbeiten konnte», erzählt Grnarova. Für die Sprachversion des Google-Assistenten musste sie der künstlichen Intelligenz beibringen, einen längeren Text zusammenzufassen und die Essenz in wenigen Sätzen wiedergeben zu können. Dazu musste die künstliche Intelligenz ein semantisches Verständnis des Inhalts entwickeln. Grnarovas Praktikum bei Google Brain im Bereich Core Machine Learning, wo sie Einblick bekam, wie Modelle lernen und was sie sehen, um eine bestimmte Entscheidung zu fällen, half ihr ebenfalls für die Entwicklung von DeepJudge.
«Ich hatte wahnsinnig Glück, denn in der Zeit, als ich an meinem Doktorat arbeitete, begannen Forschende Deep Learning und neuronale Netzwerke zu entwickeln. Das Feld der künstlichen Intelligenz erlebte eine Revolution und Computer konnten bei gewissen Aufgaben sogar übermenschliche Leistungen erreichen», erinnert sich die junge Gründerin. DeepJudge gehört zur ersten Generation von ETH-Spin-offs, die vom ETH AI Center unterstützt wurden. Inspiriert dazu, künstliche Intelligenz im Rechtswesen anzuwenden, wurde Grnarova von ihrem ehemaligen Professor Thomas Hofmann. Dieser hatte zuvor ebenfalls erfolgreich ein Start-up in diesem Feld aufgebaut.
Neue Rolle als CEO
Während Grnarova bis anhin bei jedem Projekt selbst am Code mitschrieb und hauptsächlich für den technischen Bereich zuständig war, übernimmt sie als CEO bei DeepJudge nun ganz neue Aufgaben. Sie agiert als Schnittstelle zwischen Kunden, Investorinnen und den eigenen Mitarbeitenden. Ihre Pitches und Präsentationen drehen sich nicht mehr um technische Aspekte, sondern zeigen auf, welche Probleme ihre Software lösen kann und warum Kunden sie kaufen sollen. Dass sie in so kurzer Zeit eine steile Lernkurve als CEO hinlegte, spricht für ihre Anpassungsfähigkeit.
«Ich vermisse es manchmal schon, selbst zu programmieren. Wobei es auch ein bisschen einsam sein kann, jahrelang allein an einem Code zu schreiben – wie für meine Doktorarbeit zum Beispiel. Deswegen geniesse ich es jetzt wohl besonders, als CEO mit einem Team zusammenzuarbeiten», fügt sie hinzu. Schon jetzt zählt DeepJudge 14 Mitarbeitende, obwohl das Unternehmen erst vor einem Jahr gegründet wurde. In dieser Zeit hat Grnarova mit ihrem Team bereits über eine halbe Million Franken durch Awards und Preise eingeheimst. Gerade sind von Venture Kick noch einmal 150 000 Schweizer Franken dazugekommen und Grnarova wurde auf die Forbes-Liste «30 under 30» gesetzt. Die Forbes-Platzierung löste ein riesiges Medienecho aus. Sogar Fernsehsender aus ihrer Heimat Nordmazedonien berichteten über ihren Erfolg.
Darauf angesprochen, was sie aus ihrer Heimat am meisten vermisse, huscht ein Lächeln über ihr Gesicht. «Familie, Freunde und sicher auch der soziale Austausch, der in der mazedonischen Kultur noch viel stärker verankert ist als hier», sprudelt es aus ihr heraus. Man spürt, dass Freundschaften bei ihr fürs Leben geschlossen werden und auf solidem Fundament stehen. Ihrer Meinung nach sei etwas vom Wichtigsten, mit wem man eine Firma gründe. «Beim Aufbau einer Firma wird man durch gute, aber auch schlechte Zeiten gehen. Das kann man nicht immer steuern. Ein Gründerteam zu haben, das dich unterstützt und das gleiche Ziel verfolgt wie du, ist ausschlaggebend; nicht nur für den Erfolg, sondern vor allem dafür, wie sich die Reise dorthin anfühlt», sagt Grnarova. Dann verschwindet sie mit einem Lächeln im Spiegellabyrinth des WOW Museums.
Zu der Person
Paulina Grnarova
Die Gründerin und CEO studierte Computer Science an der EPFL und schloss ihre Doktorarbeit an der ETH Zürich im Bereich künstliche Intelligenz ab. Sie wohnt und arbeitet in Zürich. In ihrer Freizeit tobt sie sich sportlich gerne beim Body Combat, Cardio- und Tanztraining aus.
Dieser Text ist in der Ausgabe 22/01 des ETH-Magazins Globe erschienen.